Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, 351 S., ISBN 978-3-462-03468-4, EUR 19,90
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Rolf Hosfeld behandelt in seinem Buch die Armeniermorde im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs und die Rache der armenischen Geheimorganisation "Nemesis" an den dafür hauptverantwortlichen türkischen Politikern nach dem Krieg. Die Darstellung beginnt, spannend und geschickt gemacht, mit der Ermordung Talaat Paschas durch den Armenier Soghomon Tehlirjan 1921 in Berlin, mit dem anschließenden Prozess, in dessen Verlauf Talaats ungeheure Verbrechen der Öffentlichkeit bekannt wurden, und dem sensationellen Freispruch des Täters.
Nach diesem fulminanten Einstieg wendet sich die Untersuchung der Lage der Armenier im Osmanischen Reich vor dem Krieg zu, vor allem den Armenierverfolgungen unter Abdul Hamid sowie, kurz nach der Machtübernahme des "Komitees für Einheit und Fortschritt" im Jahr 1908, dem Armeniermassaker von 1909. Hosfeld beurteilt das Komitee, dessen bekannteste Mitglieder Talaat und Enver Pascha waren, äußerst kritisch und lässt an der verklärenden Sichtweise, die in den Jungtürken Demokratisierer sah, aus guten Gründen kein gutes Haar. Stattdessen sieht er in ihnen vor allem eine rechtsnationalistische Bewegung, die eher mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus verwandt war. Für das ohnehin schwächelnde multinationale Osmanenreich war das von dem Komitee favorisierte Konzept der radikalen Türkisierung tödlich. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte dieser Kurs vollkommen in die Sackgasse geführt und auch in bislang loyalen, aber nichttürkischen Provinzen Unruhen ausgelöst. Im Ersten Balkankrieg hatte das Osmanische Reich schließlich fast seinen gesamten europäischen Besitzstand eingebüßt.
Hosfeld beschreibt sehr plastisch den paranoiden Nationalismus Talaats, Envers, Reschid Beys und anderer hochrangiger Mitglieder des Komitees. Selbst als Verschwörer an die Macht gekommen, vermuteten sie, dass ihre tatsächlichen und eingebildeten Gegner, die sie vor allem unter den nichttürkischen Nationalitäten des Reiches suchten, ähnliche konspirative Techniken anwenden würden. Sie waren bereit, daraus die radikalsten Konsequenzen zu ziehen. Der Eintritt in den Ersten Weltkrieg wurde von ihnen als Chance begriffen, ohne die bisher üblichen lästigen Interventionen der Großmächte mit den inneren Feinden gründlich "aufräumen" zu können. Als hauptsächlicher Feind kristallisierten sich, aus ihrer Sicht, sehr bald die Armenier heraus. Deren Kollaboration mit den Russen gab ihnen den Vorwand zu gezielten Umsiedlungs- und Vernichtungsaktionen, die mit äußerster Brutalität durchgeführt wurden.
Diese Aktionen werden von Hosfeld ins Zentrum seiner Darstellung gerückt und unter Benutzung deutscher und amerikanischer Quellen anschaulich geschildert. Hilfreich wäre hier eine Karte gewesen, auf der man die geografisch teilweise weit auseinander liegenden Schauplätze verorten könnte. Hosfeld beschreibt eindringlich die Massaker sowie die Zerstörung und Ausplünderung der armenischen Siedlungen, deren Bewohner auf Todesmärschen in das Innere Kleinasiens verschleppt, ihrer letzten Habseligkeiten beraubt und schließlich ermordet wurden. Bisweilen leisteten die Armenier Widerstand, so etwa am Musa Dagh - diese durch Franz Werfels Roman berühmt gewordene Begebenheit kommt ausführlich zur Sprache, da sie eine der wenigen erfolgreichen Aktionen des armenischen Widerstands war. Es wird überdeutlich, dass vom Komitee und ihren lokalen Helfern, darunter auch kurdischen Banden, Raub und Vernichtung geplant waren, also nicht "nur" die Umsiedlung der Armenier von der russischen Grenze weg, die dann durch beklagenswerte Lebensmittelknappheit und Organisationsfehler zum Massensterben führte.
Hosfeld kann nicht der Vorwurf polemischer Darstellung gemacht werden. dass er bei der Schilderung eines Genozids, der zwischen 800.000 und 1,4 Millionen Menschen das Leben kostete (311), Partei für die Opfer nimmt, wird man ihm nachsehen können. Er bemüht sich um Sachlichkeit, etwa bei der Beschreibung eines Gesprächs Envers mit dem Pfarrer Johannes Lepsius, der energisch für die Armenier eintrat, wo Hosfeld eine Randbemerkung Franz Werfels zu dieser Gesprächsnotiz zitiert: "Irgendwo muß Enver im Recht sein." Hier bräuchte man türkische Quellen, um dem auf den Grund gehen zu können. Hosfeld hat diese nicht und kann daher dem Grundsatz des audiatur et alter pars nicht voll gerecht werden. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass sich die Gewichtung und Bewertung des Geschehens durch die Kenntnis türkischer Quellen wesentlich verändern würde, im Gegenteil. Wer im Internet die vom türkischen Staatsarchiv bereitgestellten Dokumente zu den Armeniergreueln liest, stellt zu seinem Befremden fest, dass dort im wesentlichen Quellen zu Gewalttaten von Armeniern gegen Türken präsentiert werden, aber nicht umgekehrt. (Siehe: http://www.devletarsivleri.gov.tr/yayin/osmanli/Armenians_inottoman/generic.htm)
Eine Sache kommt bei Hosfeld zu kurz, nämlich die Schilderung der armenischen Kollaboration mit den Russen, die den Vorwand für den Völkermord lieferte. Dass es diese gab, erwähnt er immer wieder, geht aber leider nicht näher auf sie ein und versucht auch keine Quantifizierung. Dabei hätte dies keineswegs eine Relativierung der Verbrechen oder gar ein Einschwenken auf die Ausreden und Verdrehungen des Komitees bedeutet. Dass es unter den Armeniern nach Jahrzehnten der Pogrome und Misshandlungen, denen zehntausende zum Opfer gefallen waren, einige gab, die mit den Russen kollaborieren wollten, ist selbstverständlich. Demgegenüber gelingt es Hosfeld, plausibel und klar herauszuarbeiten, dass die Mehrzahl der Armenier, und zwar sowohl der politischen Führer als auch der über ganz Kleinasien verstreuten Bevölkerung, in erster Linie ein friedliches Zusammenleben mit der muslimischen Bevölkerungsmehrheit innerhalb des Osmanischen Reichs wünschte.
Das Buch beschäftigt sich auch mit der deutschen Rolle bei diesem Völkermord. Der deutschen Regierung war es wichtiger, das Osmanische Reich als Verbündeten im Krieg zu halten, als energisch gegen die Armeniermorde einzuschreiten. Der Pfarrer Lepsius, örtliche deutsche Diplomaten und auch der Botschafter in Konstantinopel, Wolff-Metternich, versuchten, zu Gunsten der Armenier zu intervenieren und die deutsche Regierung zum Einschreiten zu überreden. Doch Reichskanzler Bethmann Hollweg schrieb 1915 nur den unsäglichen Satz: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht." Dies war nicht nur Beihilfe zum Mord, sondern auch eine monströse politische Fantasielosigkeit, denn tatsächlich wäre beides möglich gewesen: die Türkei im Krieg zu halten und gleichzeitig etwas für die Armenier zu tun. Die deutsche Seite besaß ausreichend Mittel und Möglichkeiten dazu, denn die Türken waren auf die deutsche Hilfe, etwa Waffenlieferungen, viel stärker angewiesen als umgekehrt. Erfolgreiche deutsche Interventionen zu Gunsten von ethnischen Minderheiten, die von Hosfeld nicht behandelt werden, sind auf lokaler Ebene erfolgt, etwa 1917 in Palästina, wo die jüdischen Kolonisten wegen angeblicher Kollaboration mit den Engländern "umgesiedelt" werden sollten. Das ist von deutscher Seite, nämlich von General v. Falkenhayn, verhindert worden. Talaat sagte bei dieser Gelegenheit zu Botschafter Bernstorff: "Nous avons fait beaucoup de mal aux armeniens, mais nous ne ferons rien aux juifs." Und die osmanische Führung war bereit, den Deutschen die Entscheidung zu überlassen, und zwar, "pour partager la responsabilité". Also es ging doch!
Insgesamt ergibt sich bei Hosfeld das Bild nicht der Billigung, aber der fatalistischen Inkaufnahme der Verbrechen des Komitees, deren Führer, vor allem Talaat und Enver, nach dem Waffenstillstand sogar noch von deutschen Kriegsschiffen vor der eigenen Justiz gerettet wurden. Während sich die türkische Nachkriegsregierung, zumindest in der Vor-Kemal-Ära, von den Verbrechen der Mitglieder des Komitees distanzierte und deren Verfolgung ankündigte, lebten Talaat, Enver und andere Verantwortliche des Armeniergenozids im Ausland, wo es dann zur Angelegenheit der Organisation "Nemesis" wurde, die Schuldigen zu richten.
Hosfeld, ehemaliger Feuilletonchef der "Woche", hat kein wissenschaftliches Buch, sondern ein Sachbuch geschrieben, das zunächst den Forschungsstand aufarbeitet und dann neue Erkenntnisse in diesen einfügt. Er hat das Buch wie ein sehr guter Journalist und Rechercheur geschrieben, der dem Leser eine komplexe Materie leicht lesbar und spannend präsentieren will. Ihm ist dabei ein wichtiges und ausgezeichnetes Buch gelungen.
Holger Afflerbach