Stefan Klemp: "Nicht ermittelt". Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch (= Villa ten Hompel. Schriften; 5), Essen: Klartext 2005, 503 S., ISBN 978-3-89861-381-1, EUR 34,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ragna Boden: Die Grenzen der Weltmacht. Sowjetische Indonesienpolitik von Stalin bis Brežnev, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006
Peter Jahn (Hg.): Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerungen an den Krieg 1941-1945, Berlin: Ch. Links Verlag 2005
Alfons Kenkmann / Hasko Zimmer (Hgg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen: Klartext 2005
Spätestens mit den Diskussionen um Brownings "Ganz normale Männer" und Goldhagens "Willige Vollstrecker" wurde die todbringende Tätigkeit deutscher Polizeibataillone im Zweiten Weltkrieg wieder in das Bewusststein der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Dass somit auch die Ordnungspolizei in hohem Ausmaß an deutschen Kriegs- und Gewaltverbrechen im Ausland, vor allem in Osteuropa beteiligt war, verweist letztlich auf die letzten rassenideologischen Prämissen Hitler-Deutschlands zurück. [1]
Stefan Klemp hat sich in seinem Handbuch nun die überfällige Gesamtdarstellung dieser Verbrechen von Polizeibataillonen zur Aufgabe gemacht. Die Studie geht auf ein Forschungsprojekt zurück, in dem Quellen und besonders Ermittlungsverfahren zu Polizeibataillonen systematisch erfasst und ausgewertet wurden. Schon von daher lag es nahe, die Behandlung der Polizeibataillone durch die westdeutsche Nachkriegsjustiz in die Gesamtdarstellung zu integrieren. Klemp konnte hierfür 75 Ermittlungsverfahren, die in Nordrhein-Westfalen gegen Angehörige von 45 Polizeieinheiten, darunter 41 Bataillone, durchgeführt wurden, sowie 110 Ermittlungsverfahren anderer Bundesländer gegen Angehörige von 59 Einheiten (50 Bataillone) auswerten.
Klemp hat durch akribische Recherchen Daten zu 125 Bataillonen ermittelt. Mindestens 75 davon standen im Verdacht, direkt oder indirekt an Massenverbrechen beteiligt gewesen zu sein. Die Morde begannen bereits im Herbst 1939 in Polen, ohne dass hierfür Einsatzbefehle höchster Stellen vorgelegen haben. Auch in der Folgezeit lag der eindeutige Schwerpunkt der Verbrechen im Osten: Sie wurden im Kontext des Holocaust, der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener und der so genannten Partisanenbekämpfung begangen. Anhand seiner Einzelstudien gelangt Klemp zu dem Schluss, dass direkten Aktionen der ca. 50.000 Bataillonsangehörigen "mindestens eine halbe Million Menschen" zum Opfer fielen; dies entspricht früheren Schätzungen Goldhagens. Darüber hinaus waren die Bataillone indirekt, etwa durch Transportbegleitung und Vertreibungen, an der Ermordung "von etwa einer weiteren Million Menschen beteiligt" (70 f.). Besonders taten sich hierbei u. a. die Bataillone 3, 9 oder 320 hervor, die alleine fast 250.000 Menschen töteten.
Den Kern der Darstellung bildet eine numerisch geordnete Vorstellung der Einheiten - neben den Bataillonen sind sinnvollerweise Reitereinheiten, Regimenter und Schützen-Regimenter erfasst. Genannt werden in einer knappen Zusammenfassung jeweils Marschwege, Einsatzorte und -bilanzen. Dazu kommt jeweils ein Abriss des Umgangs der Nachkriegsjustiz mit den geschilderten Verbrechen. Das Kontrollratsgesetz Nr. 13 ermöglichte der westdeutschen Justiz ab dem 1. Januar 1951 die Verhandlung von Straftaten, die Deutsche gegen Ausländer begangen hatten. 1954 kam es in Dortmund zum ersten westdeutschen Gerichtsverfahren gegen ein deutsches Polizeitbataillon, das 1939 bis 1942 in Polen gewütet hatte (Nr. 61). Die Freisprüche stellen nichts weniger als einen Justizskandal und damit ein weiteres Beispiel für die westdeutsche Vergangenheitsbewältigung nicht nur in den 1950er-Jahren dar. Dabei haben sich Angehörige gerade dieses Bataillons nicht gescheut, ihre Untaten und ihre antisemitische Grundstimmung unter anderem in Fotos eindeutig zu dokumentieren.
Auch in anderen detaillierten Schilderungen aus Kriegstagebüchern oder Ermittlungen wird die Mordlust von Tätern deutlich. Anhand dieser Berichte und der skizzierten Dimensionen ergibt sich die Frage nach den Antriebskräften von selbst. Klemps Fazit schreibt letztlich Goldhagen ausdifferenziert fort: Er sieht zumindest die Offiziere als "homogene Einheit von Weltanschauungskriegern", die die Vernichtung in "Eigenregie" durchführten (408). Und auch bei den Mannschaftsdienstgraden ist sich Klemp sicher, dass sich unter ihnen ein "menschlicher Bodensatz bestehend aus Rassisten, Schlägern, Sadisten und Mördern unter der Obhut der fanatischen Offiziere durchsetzte" (409). Diese Bestimmtheit lässt für frühere Altivernativerklärungen oder zusätzliche Motive wenig Raum, obwohl die Kollektivbiografien der Bataillone erst noch zu schreiben sind.
Ein in der Nachkriegszeit von den Angehörigen aller (bewaffneten) Organe des 'Dritten Reichs' beliebtes Exkulpationsmodell greift allerdings für die Polizeibataillone sicher nicht: Polizisten, die verbrecherische Befehle verweigerten, hatten offenbar keine schweren Strafen zu fürchten. In einem Fall wurde ein Oberleutnant und Kompaniechef zwar vor ein SS- und Polizeigericht gestellt und schließlich auf Veranlassung Himmlers nach Buchenwald eingewiesen. Dieses harsche Vorgehen lag aber offenbar darin begründet, dass Oberleutnant Hornig zugleich noch andere Kompanieoffiziere über die Möglichkeit aufklärte, verbrecherische Befehle zu verweigern (§ 47 des Militärstrafgesetzbuches) und SS-Führer, die die Exekutionen durchführten, beschimpfte. Zudem hatte der Chef der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, Ordnungspolizisten keineswegs so früh respektive strikt die Beteiligung an Erschießungen verboten, wie hochrangige Polizisten der Nachkriegsjahre glauben machen wollten. [2]
In einem abschließenden Abschnitt widmet sich Klemp noch einmal ausführlich den Gründen dafür, dass diese und andere Verteidigungsstrategien ehemaliger Ordnungspolizisten in Westdeutschland so viel Erfolg haben konnten. Von 185 Ermittlungsverfahren, die in Westdeutschland seit den 1950er-Jahren eröffnet worden waren, wurden 149 eingestellt, in mindestens 29 Fällen kam es zur Anklage. In Nordrhein-Westfalen, das die meisten Verfahren anstrengte, war die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung am niedrigsten: Die oft langjährigen Ermittlungen resultierten hier in nur zwei Fällen in Schuldsprüchen, in anderen Bundesländern in 13 Fällen (399 f.).
Für sich allein genommen müssen diese Zahlen nicht unbedingt etwas bedeuten. Aber Klemp legt in seiner Studie eine Fülle von Belegen für haarsträubende Ermittlungsfehler, offenkundige Verschleppungen, direktes Desinteresse und schlichte Verdrehungen der Fakten vor. Dass Richter und Staatsanwälte immer wieder zumindest einen "subjektiven" Befehlsnotstand ausriefen, war nur ein Merkmal zahlreicher Prozesse. Zudem konnte eine selbst ernannte Kameradenhilfe Verdächtige und Angeklagte lange Jahre illegal beraten und sogar auf Zeugen Druck ausüben. So liegt der Schluss nahe, dass sich Justizpersonal mit eigener "brauner" Vergangenheit anderen NS-belasteten Gruppen gegenüber unverhältnismäßig milde verhielt. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise war mit Werner Pfromm ein ehemaliger NS-Führungsoffizier Generalstaatsanwalt in Köln, die 1961 gegründeten Zentralstellen zur Verfolgung von NS-Verbrechen standen zunächst einmal unter der Leitung ehemaliger Parteigenossen. Die bundesdeutsche Gesetzeslage mit ihren unseligen Verjährungsbestimmungen und Täterdefinitionen tat das Ihre dazu, dass auch dieser Bereich der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zumindest in Teilen bewusst zu einer Farce verkam. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen hat das armselige Ergebnis langjähriger Ermittlungen 1994 schließlich zu einer entsprechenden "Großen Anfrage" geführt.
Der Darstellung Klemps ist an vielen Stellen die gerechtfertigte Empörung über die westdeutsche Justiz anzumerken. Die Ermittlungen der ostdeutschen Staatssicherheit können indes kaum als positives Gegenbeispiel aufgeführt werden. Und auch die Urteile sowjetischer Militärtribunale, die bis 1955 "mehrere hundert Polizeiangehörige" zu hohen Strafen verurteilten, bieten in ihrer Politisierung, Instrumentalisierung und rechtsstaatlichen Unhaltbarkeit aller Verfahren keine angemessene Folie für eine solche Bewertung dar (356, 380 ff.). [3]
In einem Anhang schließlich werden die Grunddaten noch einmal nach Heimatstandort, Einsätzen, Unterstellungen und Ermittlungsverfahren zusammengefasst. Ein Index zu Bataillonen, gegen die ermittelt wurde, tabellarische Aufstellungen über Opferzahlen und Ermittlungsergebnisse, Organigramme zur Polizei im Ausland sowie eine Auswahlbibliografie runden das Handbuch ab, das sich auf diese Weise als ein wichtiges Werkzeug für die weitere Forschung erweisen wird.
Anmerkungen:
[1] Christopher Browning: Ordinary men: Reserve Police Bataillon 101 and the final solution in Poland, New york 1992; Daniel Jonah Goldhagen: Hitler's willing executioners, New York 1996; Heiner Lichtenstein: Himmlers grüne Helfer. Die Schutz- und Ordnungspolizei im "Dritten Reich", Köln 1990.
[2] Der Befehl wurde bereits 1996 beschrieben: Dieter Pohl: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996, 180.
[3] Vgl. Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002; Andreas Hilger u. a. (Hg.): Sowjetische Militärtribunale, 2 Bände, Köln 2001-2003.
Andreas Hilger