Max Hollein / Christa Steinle (Hgg.): Religion Macht Kunst. Die Nazarener, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2005, 286 S., ISBN 978-3-88375-940-1, EUR 34,00
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Vor fast 30 Jahren -1977 im Frankfurter Städel-Museum - wurde in Deutschland zuletzt eine große Schau zu den Nazarenern gezeigt. [1] Damit war es an der Zeit, das Thema noch einmal umfassend aufzugreifen, und Frankfurt sollte - nach Meinung des Direktors der Schirn Kunsthalle, Max Hollein, - "der prädestinierte Ort dafür" sein. Denn, so Hollein: "Die Nazarener gehören zu dieser Stadt beinahe so sehr wie Goethe" (10). [2] Die 2005 in der Frankfurter Schirn Kunsthalle gezeigte Ausstellung verfolgte, genauso wie der dazu gehörige und hier zu besprechende Katalog, das Ziel, die Kunst der Nazarener wieder ins Licht zu rücken, sowie "eine andere Lesart der Nazarener vorzuschlagen" (31). So sollte dieser Künstlerbund, dessen Mitglieder wegen ihrer langen Haare ursprünglich nur spöttisch "Nazareni" genannt wurden, dort als "Pioniere der Moderne", "erste Sezessionisten" und "originäre Konzeptkünstler" (9) verstanden werden.
Die Grundlage für diese angestrebte Neuaufwertung liegt in der Entstehungsgeschichte des Bundes, der sich anfänglich selbst St. Lukas-Bruderschaft nannte, und als Gegenentwurf zur am Klassizismus orientierten Wiener Kunstakademie fungierte. Sechs Studenten verließen die kaiserliche Kunstakademie, um in einem Bund von Gleichgesinnten zu leben und zu arbeiten. Dabei handelte es sich um eine der ersten Sezessionen im deutschsprachigen Raum, was den Ausstellungsmachern zufolge auch ihre "Modernität" beweisen soll (43).
Der Katalog gliedert sich in die vier großen Abschnitte Religion und Kunst, Die Bewegung, Wahrheit und Reinheit sowie Gedankenkunst und ihre Folgen, welche zwar klingende Namen, aber nicht immer entsprechende Inhalte zu bieten haben. So sind beispielsweise im vierten Teil Gedankenkunst und ihre Folgen, entgegen der Erwartung des Lesers, nur Abbildungen und kein entsprechender Aufsatz zu finden. Im Kapitel Wahrheit und Reinheit wiederum würde man eine Abhandlung zur Bedeutung des "Wahrheit"-Begriffs bei den Nazarenern erwarten, welcher schließlich der oberste Grundsatz des Bundes war: Sogar in ihrem Signum, das ihr Mitbegründer Friedrich Overbeck 1809 angefertigt hatte, war ein programmatisches "W" für "Wahrheit" an zentraler Stelle zu sehen. Das besagte Katalog-Kapitel bietet stattdessen nur einen sehr speziellen Aufsatz über "Die Kartons von Joseph Führich zu den Kreuzwegstationen in der Johann-Nepomuk-Kirche in Wien" (207-213) von Cornelia Reiter.
Dem ersten Teil Religion und Kunst sind zwei Aufsätze vorgeschaltet. Christa Steinle versucht zunächst in "Die Rückkehr des Religiösen. Nazarenismus zwischen Romantik und Rationalismus" (15-35) etwas gewaltsam, die Aktualität von Religion und Religiosität in der heutigen Zeit aufzuzeigen. Dabei reicht die Wahl der scheinbaren Belege von Songtexten der Popsänger Xavier Naidoo, Sting und Marius Müller Westernhagen bis hin zum Buch des Naturwissenschaftlers Walter Thirring, "Kosmische Impressionen" [3], und erscheint damit willkürlich und konstruiert: Mit solchen Mitteln könnte man gewiss die Rolle der Religion in jeder Zeit nachweisen. Die Autorin stellt die Frage, warum das Religiöse in öffentliche Sphären zurückkehre (16). Die Gründe sind für sie inner- und außereuropäischer Art, wobei zu letzteren - erwartungsgemäß - der radikale Islam gehöre (17-18). Damit liefert die Autorin einen einseitigen und verallgemeinernden Beitrag zur einer aktuellen, aber auch äußerst sensiblen Diskussion um Religion im Allgemeinen und Islam im Besonderen. [4]
Um den historischen Hintergrund der Entstehung der Nazarenergruppe zu erklären, schlägt Steinle anschließend in ihrem Aufsatz einen Bogen zur Zeit um 1800: Es werden sowohl geschichtliche Hintergründe des 19. Jahrhunderts - wie die Industrielle Revolution, das Ende des Absolutismus oder der Wiener Kongress - als auch philosophisches Denken und die Frage der Religion am Beispiel von Friedrich Schelling, den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie Friedrich Schleiermacher aufgezeigt.
Des Weiteren behandelt Steinle den Bezug des Nazarenismus zur Moderne. Das Aufkommen der religiösen Kunst der Nazarener in einer säkularisierten Gesellschaft wird dabei nicht nur als Folge der Aufklärung und der beginnenden Industrialisierung betrachtet. In der Kunst der Nazarener sieht die Autorin vielmehr den Hegelianischen Gedanken der Kunst "als das sinnliche Scheinen der Idee" (27) triumphieren. Außerdem wird die Rückwendung der Nazarener zum Mittelalter als "moderne Programmkunst" und eine Art "radikale" "Kulturrevolution" verstanden (34).
Diesen Gedanken setzen auch die darauf folgenden Katalogtexte von Rainer Metzger "Fragmente aus der Zukunft" (37-45), sowie von Bazon Brock, "Wir wollen Gott und damit Kunst, basta!" (67-74), fort. So bietet Metzger "Stichworte zur Modernität der Nazarener", wie es im Untertitel heißt, und unterstreicht dabei unter anderem deren "neukonzipierte Kunst", ihre Autonomie und Authentizität, ihren Purismus und nicht zuletzt Sezessionismus. Brock, der mit seinem Artikel den ersten Hauptteil Religion und Kunst einleitet, betont bei der Nazarener-Gruppe ebenfalls nicht ihre lange als überholt geltenden Ideen oder ihre so genannte "reaktionäre Unterwerfung" gegenüber Dürer und Raffael. Auch er sieht vielmehr eine "Modernität" der Bewegung in ihrem "Widerstand gegen die Zumutungen des Wiener Akademismus", und sie selbst als "im wahrsten Sinne Sezessionisten" (71).
Das Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objektivität in der Ästhetik der Nazarener behandelt Cordula Grewe in ihrem Artikel "Objektivierte Subjektivität: Identitätsfindung und religiöse Kommunikation im nazarenischen Kunstwerk", dem nach Brock zweiten und abschließenden Artikel des Religion und Kunst-Teils. Sie geht darin auf Schlüsselbegriffe wie Gefühl und Wahrheit ein, und unterstreicht die Verbindung zwischen den Nazarenern und der Philosophie Friedrich Schlegels. Die Autorin zieht des Weiteren einen Vergleich zwischen dem Nazarener Wilhelm von Schadow und dem ihm entgegen stehenden Caspar David Friedrich, und untersucht dafür die Rolle der Landschaft am Beispiel von zwei Gemälden der beiden Künstler. [5] Während die Natur in Friedrichs Bild "zum Reflexionsraum des Gotteserlebnisses" geworden sei, bestehe die Aufgabe von Schadows Gemälde in einer "historischen Verortung der Darstellung, indem sie Raffaels Landschaftstyp" zitiere, so Grewe (92-93). Die Frage nach der Nachahmung und dem Zitat bei den Nazarenern zieht sich als roter Faden durch den gesamten Katalog. Grewe sieht darin ein Streben, "ein neues Zeichensystem zu konstruieren" (97), das seine Verankerung in einem älteren System haben sollte.
Eine Liste der Künstlerbiografien und Werke mit überwiegend kurzen Erläuterungen sowie eine Bibliografie schließt den Katalog ab. Obwohl es sich um eine Ausstellungspublikation handelt, ist sie sowohl stilistisch als auch inhaltlich nicht für ein breites Publikum geeignet. Dabei ist anzumerken, dass sie - mit wenigen Ausnahmen, wie dem Aufsatz von Beat Wyss: "Die ersten Modernen" im Abschnitt Die Bewegung, - zum größten Teil in einer stilistisch oft nicht präzisen "Wissenschaftssprache" verfasst ist. Oft fehlt dabei auch eine klare Linie.
Inhaltlich wäre noch anzumerken, dass der Frage nach dem "Deutsch-Sein" der Nazarener, ihrer nationalen Verbundenheit und Thematik, nicht nachgegangen wurde, obgleich sie sehr wichtig für ihre Rezeption ist. Zwar setzt der Titel der Ausstellung und des Katalogs den Schwerpunkt auf die Bedeutung der Religion in ihrer Kunst, aber ein für die "Wahrhaftigkeit" der Darstellungen wichtiger Aspekt des Deutschseins würde die Publikation nur bereichern. [6]
Eine für die Nazarener-Forschung gewiss interessante Publikation, die nichtsdestotrotz mehr Systematisierung hätte vertragen können.
Anmerkungen:
[1] Katalog zur Ausstellung: Klaus Gallwitz (Hg.): Die Nazarener, Ausstellung Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt a. M. 1977.
[2] Viele Nazarener lebten und arbeiteten eine Zeit lang in Frankfurt, oder waren gebürtige Frankfurter, wie Johann David Passavant und Franz Pforr. Philipp Veit leitete das Städelsche Kunstinstitut von 1830 bis 1843, und Passavant war dort von 1840 bis 1861 als Inspektor tätig.
[3] Walter Thirring: Kosmische Impressionen. Gottes Spuren in den Naturgesetzen, Wien 2004.
[4] Einen (für den Artikel leider typischen) Satz wie: "Plötzlich taucht die Frage der Religion wieder auf, durch eine Gesellschaft, die mit der Religion als Fackel und Schwert den Westen bedroht" (18) etwa wünscht man sich im Katalog nicht abgedruckt zu sehen. Abgesehen von der Einseitigkeit dieser Aussage und ihrem nicht-wissenschaftlichen Charakter, sind solche Bemerkungen auch gefährlich, zumal, wenn man bildungspädagogische Aufgaben der Institution Museum vor Augen hat.
[5] Es handelt sich dabei um die Werke von Caspar David Friedrich, "Frau vor untergehenden Sonne" (um 1818), und Wilhelm Schadow, "Ein Mädchen lesend" (1831/32).
[6] Ein Zeitgenosse berichtete über die Nazarener: "Alle sind überzeugt, [...] dass man aber innerlich christlich und innerlich deutsch sein, dass das Christentum und die Deutschheit Fleisch und Blut müssen geworden sein, damit die Darstellungen von beiden wahrhaft seien". Schindler, Herbert: Nazarener. Romantischer Geist und christliche Kunst im 19. Jahrhundert, Regensburg 1982, 207.
Elina Knorpp