Johannes Cramer / Peter Goralczyk / Dirk Schumann (Hgg.): Bauforschung. Eine kritische Revision. Historische Bauforschung zwischen Marketingstrategien und öffentlichem Abseits, Berlin: Lukas Verlag 2005, 381 S., ISBN 978-3-936872-09-5, EUR 36,00
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"Die historische Bauforschung ist in die Jahre gekommen", leiten die Herausgeber das Buch ein, das kritische Beiträge zur Methodik der Bauforschung mit praktischen Beispielen kombiniert. Offensichtlich spielen sie damit aber nicht auf Bauforschung im Rahmen der Ausgrabungswissenschaftern an, wie sie von Architekten wie Koldewey und v. Gerkan seit den 1920er-Jahre entwickelt wurde, sondern auf die Neu- und Weiterentwicklung der (historischen) Bauforschung, wie sie seit 1975/76 durch eine studentische Arbeitsgruppe für Bauforschung und Dokumentation in Marburg (heute: freies Institut für Bauforschung) und unabhängig davon durch das Landesamt für Denkmalpflege Bayern angewandt wurde. Letztlich gehen wohl alle aktuellen deutschen Bauforschungsvorhaben außerhalb der reinen Architektenausbildung auf eine dieser Grundlagen zurück.
Die Frage, "Was ist Bauforschung?", scheint für das Selbstverständnis vieler Beteiligter tatsächlich ein wichtiges Problem zu sein. Abgrenzungsdiskussionen in den 1990er-Jahren, "Der Bauforscher sei selbstverständlich ein historisch geschulter Architekt" (Manfred Schuller 1989 in der Einleitung seines Buches über den Regensburger Dom), war die eine Position, "der Bauforscher sei ein architektonisch geschulter Kunsthistoriker" (Verfasser sinngemäß in der Einleitung zur Habilitationsschrift "Einführung in die historische Bauforschung", 1993), die provozierende Gegenthese. Doch was damals nach einem Streit um die Vereinnahmung der Bauforschung aussah, wirkt sich heute gegenteilig aus. Wer den Bauforscher der Architektur zubilligt, macht ihn automatisch zur Hilfskraft, denn Planung und Bestandserfassung sind ja nie Selbstzweck, sondern dienen der Restaurierung, die vom bauforschenden Architekten nicht selbst durchgeführt wird. Wenn Abgrenzungen eine größere Rolle spielen als Inhalte, überlebt sich die Bauforschung rasch, wie etwa bei der Koldewey-Gesellschaft.
Die kunsthistorische Sehweise hat sich dadurch zu einer breiteren Grundlage der Bauforschung aufgeschwungen, wenn sie definiert, Bauforschung betreibe derjenige, der mit einer umfassenden Methodik Bauwerke untersucht und - im Sinne geisteswissenschaftlicher Fragestellungen - erklären kann. Den umfassenden Anspruch unterstreicht in diesem Bande insbesondere Ernst Badstübner und schildert ihn am Beispiel einiger mitteldeutscher Kirchen sowie des Wartburg-Palais.
Ein weiteres Zitat aus dem Vorwort des Bandes klingt fast wie das Pfeifen im Walde, wenn die Herausgeber formulieren: "Die Zeiten, in denen man unter Bauforschung vor allem ein verformungsgetreues Aufmaß oder lediglich eine umfangreiche Fotodokumentation verstand, sind vorbei." Genau dies scheint eben nicht der Fall zu sein. Aus aktuellen Gutachten, etwa der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zeigt sich überdeutlich, dass es einige offenbar aus der Architektur stammende Bauforscher gibt, die Forschungsergebnisse nur auf der Grundlage des Aufmaßes beurteilen können. Eine in diesem Sinne fehlgeleitete Aufmaßideologie stellt sich inzwischen als schwerer Schaden für die Bauforschung - und für die zu erforschenden Objekte - heraus.
Extrembeispiel einer besonders intensiven Bauaufnahme mit einem besonders geringen Aussagewert ist das verformungsgetreue Aufmaß des Einsteinturms in Potsdam. M. Donath meint, "die Hauptmasse der gewonnenen Informationen [sei] für die denkmalpflegerischen Maßnahmen ohne Belang". Tatsächlich befinden wir uns hier nicht mehr im Bereich der historischen Bauforschung, sondern in dem der technischen Bauforschung, also der Materialprüfung, für bau-historische Fragestellungen praktisch ohne Aussagewert. Niemand, der künftig eine kunsthistorische oder architekturgeschichtliche Abhandlung über den Einsteinturm schreibt, muss auf dieses Aufmaß zurückgreifen.
Wie ergebnisorientiert Bauforschung sein kann, zeigt demgegenüber in diesem Band der Beitrag von Michael Scheftel, der vom Aufmaß mehrerer Häuser auf dem Münzenberg in Quedlinburg ein umfassendes Bild der ehem. Klosterkirche zu geben vermag, die in diesen Häusern als verbauter Rest erhalten ist.
Die Diskussion um Aufmaße und deren Qualität ergab sich um 1980 nicht wegen der archäologischen Untersuchungen bei griechischen Tempeln, sondern im Zusammenhang mit Sanierungsmaßnahmen und Bauuntersuchungen in Mitteleuropa, vor allem bei den zahlreichen in das Blickfeld der Denkmalpflege und letztlich der Kunstgeschichte und Volkskunde gelangten Bürger- und Bauernhäuser. Hier hatte man die Extreme einerseits eines "Architektenaufmaßes", bei dem von vorneherein alle Maße zur Rechtwinkligkeit sowie Mauern und Wände zu einer einheitlichen Wandstärke begradigt wurden und andererseits der von einem archäologisch arbeitenden Architekten erarbeiteten Zeichnung auf Karton, bei dem selbst Abbruchkanten des Putzes minuziös dokumentiert wurden, aber weder bauhistorische Schlussfolgerungen gezogen waren, noch der sanierende Architekt die für ihn wichtigen Angaben klar ersehen konnte.
Mehrere Autoren sprechen nicht nur die Stellung der Bauforschung an, sondern verweisen ausdrücklich auf die Frustration einiger aus dem Fach Architektur stammender Bauforscher, als Wissenschaftler nicht hinreichend akzeptiert zu sein. Ausdrücklich verweist darauf Stefan Breitling in einem Beitrag unter dem Titel "Wenn dem Kunstwissenschaftler der Gegenstand und dem Bauhistoriker die Worte fehlen". Ausdrücklich verweist er darauf, dass zur Bauforschung auch das Auswerten und die Kritik der Sprach-, Schrift- und Bildquellen gehört. Konsequenterweise kritisieren mehrere Beiträge die Beschränkung von Bauuntersuchungen auf das Einzelobjekt, sodass der Zusammenhang außer Acht bleibt, ja womöglich sogar auf Einzelaspekte ohne die Chance auf einen wirklichen Überblick reduziert wird.
Die Frage nach der Eigenständigkeit der Bauforschung behandelt schließlich nochmals Stefan Breitling, der die Auffassung von Hannes Eckert, Joachim Kleinmanns und Holger Reimers unterstreicht, Bauforschung sei ein eigenes Fach und die Beispiele, in denen der Bauforscher selbst seine Ergebnisse vermittelt, also positive Beispiele, hervorhebt. Doch in dieser Diskussion steckt ein Missverständnis. Bauforschung als eigenes Forschungsfach zu etablieren, ist gar nicht erforderlich, denn zum einen benötigt es die Interdisziplinarität, die ein einzelner Forscher üblicherweise gar nicht aufbringen kann, zum anderen müssen sich die Ergebnisse in einem wissenschaftlichen Kontext einbringen lassen, der die Forschungen hervorgerufen hat. Geht es um die Bauuntersuchung eines Baudenkmals für die Denkmalpflege, sind in der Regel geisteswissenschaftliche Aspekte ebenso erforderlich wie die Lieferung technischer Grundlagen für die Wiederherstellung - die Spreu teilt sich hier vom Weizen unabhängig einer fachlichen Eingrenzung oder Offenheit. Ergebnisse erweisen sich relativ schnell als brauchbar oder unbrauchbar, wenn man in der einen oder anderen Weise mit ihnen zu arbeiten hat, und dann ist die Frage nach der fachlichen Herkunft unerheblich.
Der Tagungsband enthält nicht nur Beiträge zur Diskussion um die Bauforschung in der Öffentlichkeit, sondern auch solche zur Verfeinerung der Methodik der Forschung, beispielsweise zu Fragen und Problemen der Dendrochronologie (Thomas Eissing, Tilo Schöfbeck). Mehrere der Beiträge äußern sich am Beispiel ausgewählter zumeist brandenburgischer Bauten. Neben der Diskussion, auf die wir hier umfangreicher eingegangen sind, gibt es also weitere Gründe, dieses Buch zu erwerben und zu lesen. Den Herausgebern sei daher ausdrücklich gedankt für diesen umfassenden Beitrag zum Verständnis und Selbstverständnis der Bauforschung.
G. Ulrich Großmann