Anselm Tiggemann: Die "Achillesferse" der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985 (= Subsidia academica. Reihe A: Neuere und neueste Geschichte; Bd. 5), Lauf a.d. Pegnitz: Europaforum-Verlag 2004, 873 S., ISBN 978-3-931070-34-2, EUR 46,80
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Stellungnahme von Anselm Tiggemann mit einer Replik von Patrick Kupper
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Homers Achilles wurde bekanntlich noch als Säugling von seiner Mutter unverwundbar gemacht - bis auf die eine Ferse, die ihm schließlich vor Troja zum Verhängnis wurde. Ein gezielter Pfeilschuss in die verwundbare Stelle streckte den griechischen Helden nieder. Seither ist die Achillesferse sprichwörtlich geworden und, wenig verwunderlich, auch in den Metaphernfundus der Kernenergiekontroverse eingegangen. Anselm Tiggemann hat sie nun als Überschrift seiner auf eine Dissertation an der Universität Dortmund zurückgehenden Publikation gewählt. Doch passt die Metapher? Die Kernenergie als Achilles, die Entsorgung der nuklearen Abfälle als deren Ferse? Zweifel sind erlaubt. Die neuere sozialwissenschaftliche Forschung hat ein anderes, differenzierteres Bild gezeichnet. Sie hat eine ganze Reihe von Schwachstellen in der Entwicklung der Kerntechnologie herausgearbeitet: von unzureichender gesellschaftlicher Einbindung über technische Risiken und mangelnde Wirtschaftlichkeit bis zum Problem der Proliferation und zur Verwundbarkeit gegenüber terroristischen Attacken. In dieser Perspektive erscheint die Atomwirtschaft weniger als nahezu unverwundbarer Held halbgöttlicher Abkunft denn als erdgeborener Riese auf tönernen Füßen. [1]
Nichtsdestotrotz hat sich die Problematik des radioaktiven Abfalls, da ist Tiggemann zuzustimmen, in den letzten Jahrzehnten als großer, vielleicht sogar als größter Stolperstein auf dem Entwicklungspfad der Kernenergie herausgestellt. Die Entsorgungsfrage ist für eine gesellschaftswissenschaftliche Fragestellung besonders ergiebig, da sich die Problematik des radioaktiven Abfalls grundsätzlich nicht lösen, sondern lediglich soziotechnisch verwalten lässt. Eine Analyse der politischen Karriere der nuklearen Entsorgung verspricht daher gesellschaftsgeschichtliche Einblicke, die weit über das engere Thema der Kernenergie hinausgehen.
Dies ist auch das Anliegen Tiggemanns: Auf gut 800 (nicht sehr eng bedruckten) Seiten widmet er sich der Politik der nuklearen Entsorgung in der Bundesrepublik Deutschland von 1955 bis 1985, wobei er "Gorleben" als "Schnittpunkt lokaler, regionaler und bundesweiter Entwicklungen auf diesem Feld" (17) ins Zentrum seiner Untersuchung rückt. Die Studie gliedert sich in vier im Wesentlichen chronologisch angeordnete Hauptteile. In einem ersten Teil werden Grundlagen zur bundesdeutschen Entwicklung der Kerntechnologie, zur Wiederaufbereitung und zur Lagerung radioaktiver Abfälle sowie zur Opposition gegen kerntechnische Anlagen bis in die 1970er-Jahre hinein geschildert. Die Aushandlung eines bundesdeutschen Entsorgungskonzepts Anfang der 1970er-Jahre, die sich hauptsächlich zwischen der Bundesregierung, der chemischen Industrie und den Elektrizitätsversorgungsunternehmen abspielte, wird im zweiten Teil rekonstruiert. Der dritte und umfangreichste Teil setzt sich mit der Standortauswahl und den aufkeimenden Widerständen gegen das geplante "Entsorgungszentrum" auseinander. Im abschließenden vierten Teil schildert Tiggemann die Neuausrichtung der bundesdeutschen Entsorgungspolitik nach der Ablehnung der Wiederaufbereitung durch die niedersächsische Landesregierung 1979.
Tiggemanns Ausführungen beruhen auf einem breiten Studium zeitgenössischer Quellen, das den Autor in über ein Dutzend Archive führte, sowie auf Aussagen aus gut vierzig Zeitzeugeninterviews. Der Autor vermag denn auch, die Faktenlage für so manche sich um Gorleben rankende Spekulation klar zu stellen. Darüber hinaus zeigt Tiggemann auf, dass das Problem der nuklearen Entsorgung entgegen der landläufigen Meinung bereits früh erkannt, aber lange als nicht sehr drängend eingestuft und mit entsprechend bescheidenen Mitteln verfolgt wurde. Die komplizierten Aushandlungsprozesse, an denen eine Vielzahl staatlicher und wirtschaftlicher Akteure in wandelnden Konstellationen beteiligt war und die schließlich zum Projekt eines Entsorgungszentrums in Gorleben führten, werden detailliert rekonstruiert. Ebenso wird die breite gesellschaftliche Verankerung des regionalen Widerstandes an den Entsorgungsstandorten herausgearbeitet und auf die Bedeutung "Gorlebens" für die deutsche Anti-AKW- und Ökologie-Bewegung hingewiesen. Als Ursache für die sich ergebende Frontstellung von Befürwortern und Gegnern werden nicht zuletzt eine fehlgeleitete Informationspolitik und ein intransparentes Standortauswahlprozedere eruiert, die ein Klima des Misstrauens schufen. Leider verliert sich der Erzählstrang in vielen Einzelheiten und Unterteilungen, sodass sich das Buch eher zum Nachschlagen als zum Lesen en bloc anbietet. Ein rascher Überblick lässt sich immerhin durch die Lektüre der Zusammenfassungen am Ende jedes Buchteils gewinnen.
Tiggemanns dicht belegte und ausgewogen argumentierende Studie erschließt zweifellos ein wichtiges Kapitel der deutschen Kernenergie- und Gesellschaftsgeschichte. Allerdings schmälert die ungenügende Berücksichtigung des internationalen Forschungsstandes den Nutzen des Buches beträchtlich. Zum einen hätte sich durch den Einbezug theoretischer Angebote der historischen Wissenschafts- und Technikforschung eine zusätzliche und wohl äußerst fruchtbare Reflexionsebene einziehen lassen. Zum anderen ist die Literaturbasis fast gänzlich auf deutschsprachige Publikationen zu Deutschland beschränkt. Eine breitere Kenntnis der einschlägigen Literatur hätte es erlaubt, ein fundierteres Bild der inter- und transnationalen Verknüpfungen zu zeichnen, und auch die mehrfach behauptete Einzigartigkeit und Spezifität der bundesdeutschen Entwicklung hätte mit einer weniger ausschließlich auf Deutschland bezogenen Optik erst einen analytischen Boden gewonnen.
Mit der fehlenden internationalen Anbindung hat Tiggemann zweifellos ein großes Potenzial vergeben. Gleichzeitig macht die Auslassung deutlich, in welcher Richtung weiterzuarbeiten ist. Eine transnationale Darstellung, die es versteht, nationale Entwicklungen stringent miteinander zu vergleichen und zu verknüpfen, würde zweifellos reiche Erkenntnisgewinne abwerfen.
Anmerkung:
[1] So die von mir verwendete Metapher: Patrick Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft: Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst, Zürich 2003, 292 (Rezension hierzu: http://www.sehepunkte.de/2003/12/3156.html). Zu Deutschland vgl. insbesondere die Arbeiten von Joachim Radkau, auf die sich auch Tiggemann bezieht.
Patrick Kupper