Rezension über:

Albert Bruer: Aufstieg und Untergang. Eine Geschichte der Juden in Deutschland (1750-1918), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 394 S., ISBN 978-3-412-28105-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Andreas Brämer
Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Brämer: Rezension von: Albert Bruer: Aufstieg und Untergang. Eine Geschichte der Juden in Deutschland (1750-1918), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/9830.html


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Albert Bruer: Aufstieg und Untergang

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In den vergangenen Jahren hat die neuzeitliche deutsch-jüdische Geschichte als Teildisziplin der allgemeinen Geschichtswissenschaft wachsende Resonanz erzeugt und zugleich einen wichtigen Professionalisierungsschub erfahren. Eine Fülle von Monografien und Sammelbänden ist erschienen, in denen sich empirische Forschung mit dezidiert theoriegeleiteten Fragestellungen verknüpft und durch die ein immer facettenreicheres Bild von der wechselvollen Vergangenheit der in Deutschland beheimateten Juden entsteht. Die signifikante Verbesserung der Forschungslage manifestiert sich zudem in wiederholten Versuchen, den momentanen Kenntnisstand in Form von Gesamtdarstellungen synthetisch aufzubereiten. Auch der Publizist und Verleger Albert Bruer hat unlängst eine solche deutsch-jüdische Geschichte publiziert, die sich im Kern mit der Periode zwischen 1750 und 1918 auseinandersetzt. Dabei kommt ihm neben der vorhandenen älteren und neueren Literatur auch die eigene Dissertation zugute, die 1991 unter dem Titel 'Geschichte der Juden in Preußen (1750-1820)' bei Campus verlegt worden ist. Das jetzt erschienene Buch greift Teile der dort vorgelegten Ergebnisse auf und erweitert die Thematik sowohl in geografischer als auch in zeitlicher Hinsicht.

Während der Untertitel des Buches sowie der Klappentext des Schutzumschlages den Untersuchungsgegenstand grob umreißen, sucht der Leser (bzw. die Leserin) vergeblich nach genaueren Informationen zur Fragestellung und Zielsetzung, zu theoretischen Vorüberlegungen sowie zu methodischen Ansätzen. Eine Einleitung in optima forma fehlt nämlich bedauerlicherweise, an deren Stelle das erste Kapitel einen konzisen Abriss der deutsch-jüdischen Geschichte seit dem Mittelalter bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts ('Auf dem Weg in die Neuzeit') liefert und zugleich zur eigentlichen Darstellung hinführt. In diesem Abschnitt leitet der Verfasser zur Emanzipation der deutschen Juden über, die mit der Reichsgründung vollendet wird: "Wie es dazu kam und welche Entwicklungen dem vorangingen, sind Schwerpunkte des Buches" (21).

Es folgen dreizehn weitere Kapitel. Darin greift der Autor zunächst den hindernisreichen, aber insgesamt erfolgreich verlaufenen Gleichstellungsprozess der deutschen Juden auf. Bewegten sich die Juden bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts außerhalb der traditionellen Ständeordnung, so erfolgte bis 1869/71 ihre Gleichberechtigung. Diese ging einher mit einem bemerkenswerten ökonomischen Aufstieg und der Verbürgerlichung weiter Teile der jüdischen Gesellschaft. Bruer schildert diese Entwicklungen, wobei insbesondere seine wirtschaftsgeschichtlichen Ausführungen zu überzeugen vermögen. Zu kritisieren ist allerdings die Neigung des Verfassers, seine Darstellung nicht nur nach dem Prinzip 'Männer machen die Geschichte' zu strukturieren, sondern auch zahlreiche Themen auszublenden, die nach zeitgenössischen Maßstäben durchaus ihren Platz in einer Geschichte des neuzeitlichen deutschen Judentums haben. Insbesondere Aspekte der innerjüdischen Vergesellschaftung kommen bei Weitem zu kurz. Während die Begriffe 'Assimilation' und 'Akkulturation' unkritische Verwendung finden, werden die Veränderungen in den jüdischen Gemeinden, Institutionen, Vereinen und Organisationen entweder gar nicht oder lediglich in wenigen Zeilen abgehandelt. Ebenso bleiben Fragen nach dem sich wandelnden jüdischen Selbstverständnis nahezu unbeantwortet. Religiöse Pluralisierung und Praxis sowie das seit Ende des 19. Jahrhunderts an Kontur gewinnende Phänomen des Zionismus als Ideologie und Bewegung werden allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen.

Während der Verfasser eine Fülle von Informationen liefert, um den insgesamt positiven Verlauf der deutsch-jüdischen Geschichte im 19. Jahrhundert zu veranschaulichen, thematisiert er zugleich die Schattenseiten und Begrenzungen der Integration. Das Thema Antisemitismus nimmt deshalb zu Recht breiten Raum ein, wobei es Bruer leider versäumt, auch die Vielfalt von jüdischen Reaktionen auf die Ausgrenzungserfahrungen zu untersuchen. Der Autor gelangt insgesamt zu der Schlussfolgerung, dass die Situation der deutschen Juden infolge der vorhandenen Vorurteile auch nach der rechtlichen Gleichstellung prekär geblieben sei. Es gelingt Bruer anhand zahlreicher Beispiele nachzuweisen, dass ein aggressiver Judenhass besonders seit dem letzten Jahrhundertviertel in Teilen der Bevölkerung Fuß zu fassen vermochte. Fragwürdig bleibt hingegen seine Entscheidung, die Untersuchung, die den Titel 'Aufstieg und Untergang' trägt, auf die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu begrenzen. Dadurch entsteht nämlich der Eindruck, als präsentierten sich die Wilhelminische Zeit und die Weimarer Republik aus jüdischer Sicht lediglich als Vorgeschichte der tatsächlichen Vernichtung und Ermordung während des Holocaust. Richtig ist, dass ein zum Teil gewalttätiger Antisemitismus das Zusammenleben von jüdischen Deutschen und deutschen Nichtjuden nach 1918 erheblich belastete, doch mag man zugleich einwenden, dass die jüdischen Bürger zugleich Zugang zu gesellschaftlichen Bereichen erhielten, die ihnen bis dato verschlossen geblieben waren. Der Verfasser übersieht die Ambivalenzen, die sich mit der Demokratisierung des politischen Systems ergaben. So angreifbar der von Bruer verwendete Begriff der 'Erfolgsgeschichte' an sich schon ist, so lassen sich durchaus Belege für deren Fortsetzung auch noch bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts anführen. Wenn der Verfasser sein letztes Kapitel, das sich mit der Erneuerung und Zuspitzung des Antisemitismus im Kaiserreich befasst, mit dem Titel 'Der Weg ins Verhängnis' überschreibt, spricht er eben jenem historischen Determinismus das Wort, dem er zugleich ausdrücklich entgegentritt.

Zusammenfassend hinterlässt die Lektüre einen zwiespältigen Eindruck. Bruer stellt in seinem Opus ein stupendes Faktenwissen unter Beweis, das er zudem übersichtlich geordnet und flüssig geschrieben darbietet. Das Buch mag deshalb insbesondere einer Leserschaft zugute kommen, die sich bislang noch nicht intensiv mit deutsch-jüdischer Geschichte befasst hat. Angesichts eines Narrativs, in der Aspekte der politischen Geschichte, der Ideen- und Wirtschaftsgeschichte im Vordergrund stehen, weite Teile jüdischer Lebenswirklichkeit in Deutschland jedoch ausgeblendet bleiben, wird das Fachpublikum Bruers Veröffentlichung jedoch eher mit Skepsis lesen, zumal wichtige neuere Monografien selbst in der erweiterten Bibliografie, die als PDF-Datei im Internet (http://www.boehlau.de) zur Verfügung steht, keine Erwähnung finden - hier sei nur auf Simone Lässigs 2004 publizierte Studie 'Jüdische Wege ins Bürgertum' verwiesen. Das Buch ist nicht zuletzt auch an seinem eigenen, im Klappentext formulierten Anspruch gescheitert, über die vorhandene Literatur hinauszugehen und "die Geschichte stets im Zusammenhang mit der Geschichte ihrer sozialen Umgebung" zu betrachten. Dadurch wird der falsche Eindruck erweckt, als ob die Forschung noch immer in einer streng sektoralen und isolierten Betrachtung jüdischer Geschichte verharre. Dies ist aber mitnichten der Fall, auch wenn Bruer in der Ausführlichkeit seiner allgemeingeschichtlichen Einbettungen zuweilen über das bisher übliche Maß hinausgeht. Anstatt also "ein neuartiges Bild" zu skizzieren, bleibt seine Monografie in ihrer Ausrichtung an Ereignissen und Personen weit hinter anderen Gesamtdarstellungen der letzten Jahre zurück. Auf den Rang eines Standardwerks zur neuzeitlichen deutsch-jüdischen Geschichte wird Bruers Buchveröffentlichung also keinen Anspruch erheben können.

Andreas Brämer