Elia Morandi: Italiener in Hamburg. Migration, Arbeit und Alltagsleben vom Kaiserreich bis zur Gegenwart (= Italien in Geschichte und Gegenwart; Bd. 19), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 398 S., ISBN 978-3-631-52205-9, EUR 54,00
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Migration war über Jahrzehnte ein randständiges Thema in der deutschen Zeitgeschichte. [1] Das hat sich nun geändert. Gleich an mehreren Universitäten sind in den letzten Jahren beachtenswerte Arbeiten hierzu entstanden. [2] Zu diesen Studien zählt auch Elia Morandis Geschichte der italienischen Migration in Hamburg. In seiner zeitlich weit gespannten Arbeit, die vom Kaiserreich bis zur unmittelbaren Gegenwart reicht, behandelt der Autor eine bemerkenswerte Vielzahl von Aspekten. Das reicht von den politischen Rahmenbedingungen über die wirtschaftliche und demografische Situation im Aufnahmegebiet bis hin zur sozialen Lage und den in der Fremde gemachten Erfahrungen der italienischen Einwanderer.
Hierfür hat der Autor nicht nur in breitem Umfang Materialien Hamburger Archive ausgewertet. Die Arbeit stützt sich unter anderem auch auf Recherchen im Archiv des italienischen Außenministeriums in Rom. Außerdem ist es Morandi gelungen, die in Privatbesitz befindliche Korrespondenz der für die Betreuung der Italiener zuständigen Caritas-Stelle einzusehen. Um dem Alltag der Migranten nachzuspüren, schuf der Autor schließlich auch eigene Quellen: Er führte mit insgesamt 24 Italienerinnen und Italienern längere lebensgeschichtliche Interviews.
Es sind vor allem diese Quellen, welche die besondere Stärke des Buches ausmachen, vermitteln sie doch tiefe Einblicke in die Lebenswelt der italienischen Gastarbeiter in Deutschland. So kann Morandi eindringlich zeigen, mit welch enormen sozialen Kosten die Migration verbunden war: Die allermeisten Italiener lebten über Jahre getrennt von ihren Familien in primitiven Barackenlagern, die oftmals noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Vor allem die in Italien zurückgebliebenen Kinder litten oftmals sehr unter den familiären Trennungen. Besonders schwierig war das für Kinder, deren Mütter ebenfalls in die Fremde gegangen waren: Sie kamen zumeist in Internate, bei nicht wenigen stellten sich in der Folgezeit Lernschwierigkeiten ein. Hinzu kamen vielfältige Diskriminierungen am Arbeitsplatz, in der Schule, bei Behördengängen oder bei der Wohnungssuche. Zahlreiche Deutsche nutzten die Situation schamlos aus und vermieteten heruntergekommene Wohnungen in abbruchreifen Häusern zu horrenden Preisen an Ausländer. So kam es, dass sich Italiener (wie auch andere Gastarbeiter) in den sanierungsbedürftigen Altstadtteilen Hamburgs konzentrierten, während Deutsche sich zunehmend am grünen Stadtrand niederließen. Italiener waren außerdem seit der ersten Rezession von 1966 immer wieder als Erste von Arbeitslosigkeit bedroht, weil die Beschäftigung von Gastarbeitern letztlich einen wichtigen Konjunkturpuffer für die Bundesrepublik darstellte. Etliche Italiener blieben jedoch auch nach dem Ölschock des Jahres 1973 in der Bundesrepublik, und verabschiedeten sich schließlich ganz von ihren ursprünglichen Absichten, möglichst schnell in die Heimat zurückzukehren.
Die Integration der Dagebliebenen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft verlief sehr langsam und ist bis heute nicht vollständig abgeschlossen, wie Morandi verdeutlicht. So sind zwar italienische Migranten inzwischen häufig mit deutschen Frauen bzw. Männern verheiratet. Auch arbeiten etliche von ihnen erfolgreich als Unternehmer. Die Eingliederung weist allerdings bis heute erhebliche Defizite auf. Nach wie vor sind italienische Kinder etwa in Gymnasien unter- und in Sonderschulen überrepräsentiert. Dass das in Hamburg wiederum in geringerem Maße der Fall ist, führt Morandi u. a. auf die härteren schulischen Anforderungen in den süddeutschen Bundesländern zurück und liefert damit gleich einen kleinen Beitrag zur derzeitigen Bildungsdebatte.
Was sich jedoch im Lauf der Zeit grundlegend geändert hat, ist, dass sich die Vorurteile vieler Deutscher gegenüber Italienern inzwischen weitgehend abgeschliffen und sogar einer ausgesprochen positiven Beurteilung Platz gemacht haben, die ihrerseits höchst klischeebehaftet ist: Die Italiener verstünden eben etwas vom "savoir vivre", wüssten, wie man das Leben richtig genieße, so die heute weit verbreitete Vorstellung. Morandi führt diese Entwicklung zum einen auf das auch in Italien zu beobachtende Wirtschaftswunder zurück: In den Augen vieler Deutscher gelten Italiener nun nicht mehr wie früher als Habenichtse. Zum anderen habe die Migration von Menschen außerhalb Europas nach Deutschland dazu geführt, dass Italiener den meisten Deutschen nun nicht mehr so fremd erschienen wie einstmals, sondern als kulturell eng verwandte Nachbarn in Europa. Warum gerade die Italiener ein so positives Image in Deutschland besitzen, vermag Morandi aber nicht schlüssig zu erklären.
Morandis Studie hat auch noch andere Schwächen. Manchmal sind die allgemeinen Teile, etwa zur politischen Entwicklung Deutschlands, zu ausführlich geraten. Bedingt durch den Überblickscharakter der Arbeit werden zudem einige wichtige Aspekte zu kursorisch abgehandelt. Zu kurz gekommen sind beispielsweise Morandis hoch interessante Ausführungen zur Propagandatätigkeit der faschistischen Regierung unter den Auslandsitalienern. Kann er doch zeigen, dass das Regime Mussolinis allem Anschein nach durchaus größere und vor allem mental lange nachwirkende Erfolge zu verzeichnen hatte. Damit widerspricht Morandi den bisherigen Forschungsergebnissen. [3]
Zu fragen ist schließlich auch, ob der Autor für die Zeit nach 1945 nicht noch eine weitere Zäsur hätte setzen müssen. Beim Lesen fällt auf, dass die "langen Sechzigerjahre" auch bei diesem Thema in vielerlei Hinsicht einen tief greifenden Einschnitt darstellen: Im Zeichen von "mehr Demokratie wagen" konzentrierte sich nicht nur die bis dahin sehr paternalistische Betreuungsarbeit deutscher Stellen auf Selbstständigkeit und Selbstorganisation der Betroffenen. Massiv angeprangert wurden - nicht zuletzt durch die "68er"-Bewegung - auch die als menschenunwürdig bezeichneten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter. Mit Erfolg: Die meisten Arbeitgeber bemühten sich in der Folge um Verbesserungen. Außerdem scheinen sich die meisten Gastarbeiter, die heute noch in der Bundesrepublik leben, genau in diesen Umbruchjahren der Bonner Republik zum Bleiben entschieden zu haben. Schließlich war der von Morandi beschriebene Wandel im Italienerbild der Deutschen ein Ergebnis des sich seit Mitte der 1960er-Jahren vollziehenden so genannten Wertewandels, der mental gesehen vielleicht die wichtigste Zäsur des 20. Jahrhunderts darstellt: Pflichtwerte wie etwa Gehorsam verloren damals massiv an Bedeutung zu Gunsten von so genannten Selbstentfaltungswerten, zu denen nicht zuletzt der Lebensgenuss gehörte.
Alles in allem betrachtet hat Elia Morandi eine durchaus beachtliche Forschungsleistung erbracht und unser Wissen vor allem um die menschliche Dimension der italienischen Migration ins einstige "Wirtschaftswunderland" Bundesrepublik erweitert.
Anmerkungen:
[1] Die Ausnahme machen: Klaus Bade: Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880-1980, Berlin 1983 und Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
[2] Beispielhaft: Karin Hunn: "Nächstes Jahr kehren wir wieder zurück..." Die Geschichte der türkischen "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik, Göttingen 2005; Yvonne Rieker: "Ein Stück Heimat findet sich ja immer". Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik, Essen 2003.
[3] Claudia Baldoli: Un fallimento del fascismo all'estero: la costruzione delle piccole Italie nella Germania di Hitler, in: Italia Contemporanea 2004 Nr. 235, 221-238.
Patrick Bernhard