Rezension über:

Susanne Heim (Hg.): Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus (= Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus; Bd. 2), Göttingen: Wallstein 2002, 312 S., ISBN 978-3-89244-496-1, EUR 20,00
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Susanne Heim: Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933-1945 (= Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus; Bd. 5), Göttingen: Wallstein 2003, 280 S., ISBN 978-3-89244-696-5, EUR 24,00
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Rezension von:
Isabel Heinemann
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Isabel Heinemann: Forschung an den landwirtschaftlichen Kaiser-Wilhelm-Instituten (Rezension), in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/7589.html


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Forschung an den landwirtschaftlichen Kaiser-Wilhelm-Instituten

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In jüngster Zeit hat das Interesse an einer historischen Analyse der Verschränkung von Wissenschaft, Politik und nationalsozialistischer Kriegführung stark zugenommen. Sukzessive wird die Geschichte der wissenschaftlichen Disziplinen und ihrer wichtigsten Protagonisten in Nationalsozialismus und früher Nachkriegszeit neu aufgearbeitet. Dabei treten neue Fragen nach Karrierechancen, Fördergeldern und bereitwilliger Kooperation vieler Wissenschaftler zu Tage, welche die gängigen Stereotypen von der vermeintlichen "Wissenschaftsfeindlichkeit des Nationalsozialismus" oder auch der Kontinuität einer "unpolitischen Wissenschaft" endgültig als obsolet erscheinen lassen. Viele Wissenschaftler begrüßten Krieg und Expansionspolitik und die damit verbundenen Handlungsspielräume oder nahmen sie zumindest billigend in Kauf. Nicht Wenige gingen so weit, Häftlinge als Arbeitskräfte für ihre Forschungsprojekte zu benutzen, und andere missbrauchten sie gar als menschliches Forschungsmaterial. Dass somit die aktive Rolle vieler Wissenschaftler in Nationalsozialismus, Krieg und Besatzungspolitik innerhalb der Wissenschaftsgeschichte thematisiert wird, daran hat die Autorin/Herausgeberin der beiden Bände maßgeblichen Anteil. Gleiches gilt für das Projekt zur Erforschung der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaften am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, in dessen Rahmen die beiden Arbeiten entstanden.

In ihrer Einzelstudie "Kalorien, Kautschuk und Karrieren" wie auch im Sammelband "Autarkie und Ostexpansion" untersucht Susanne Heim die Forschung an den landwirtschaftlichen Kaiser-Wilhelm-Instituten (KWI), ein besonderer Fokus liegt auf dem KWI für Züchtungsforschung in Müncheberg bei Berlin. Der Bedarf an Grundlagenforschung und beratender Expertise für Landwirtschaft und Agrarproduktion war bereits vor Kriegsbeginn immens hoch, galt es für die Nationalsozialisten doch unter den Schlagworten "Autarkie" und "Erzeugungsschlacht" Lehren aus der ernährungspolitischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu ziehen. Hinzu kam, dass sich die Genetik als Leitwissenschaft der Zeit etablierte, mit ihren Spielarten Humangenetik/Eugenik und Züchtungsforschung. In ihrer Monografie untersucht Heim in drei Schritten den Beitrag der landwirtschaftlichen Forschung an den KWIs zur nationalsozialistischen Expansionspolitik. Zuerst wird der Staatssekretär im Reichministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, und seine ernährungspolitische Konzeption im Krieg dargestellt. Als Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (seit 1941) und durch seine Funktion als Ernährungsfachmann war er maßgeblich für Ausbau und Finanzierung der agrarwissenschaftlichen KWI zuständig. Backe ließ nicht nur am Problem der Kriegsernährung arbeiten, sondern verstand es perfekt, "die militärische und ökonomische Expansionspolitik durch Institutsgründungen bzw. Verlagerungen [...] kulturpolitisch zu ergänzen" (Kalorien, 121).

Ein zweites Kapitel stellt das Projekt der Naturkautschukproduktion im besetzten Osteuropa als konzertierten Forschungsschwerpunkt vor, an dem sich neben dem KWI für Züchtungsforschung auch Vertreter von Industrie, Behörden und vor allem der SS beteiligten. Die als hoch kriegswichtig eingestuften Versuche zur Züchtung von Koks Saghys fanden ab 1941 in Rajsko statt, einem zum Konzentrationslager Auschwitz gehörenden Forschungsgut. Geleitet wurde die Forschungsabteilung von einem SS-Offizier, einer der Abteilungsleiter stammte aus dem KWI in Müncheberg, die Arbeitskräfte wurden aus dem Konzentrationslager entsandt. Das Kautschuk-Forschungsprojekt zeigt eindrücklich, wie bedenkenlos sich die Wissenschaftler der Arbeitskraft von Häftlingen bedienten und unter Rückgriff auf Sklavenarbeit und geraubte Ressourcen einen Produktionsversuch unternahmen, der unter anderen Bedingungen völlig unrentabel gewesen wäre.

Das dritte Kapitel schildert die Karrieren zweier Züchtungswissenschaftler, von Hans Stubbe (1943 Leiter des KWI für Kulturpflanzenforschung) und Klaus von Rosenstiel (in der besetzten Sowjetunion verantwortlich für die Koordination der Agrarforschung). Heim portraitiert Stubbe als "typisch für die Spitzenwissenschaftler in den Kaiser-Wilhelm-Instituten". Anders als Rosenstiel, der Wissenschaft der Politik bereitwillig unterordnete und demzufolge als Wissenschaftsorganisator Karriere machte, war für Stubbe "die nationalsozialistische Expansionspolitik das Mittel zum wissenschaftlichen Fortschritt" (Kalorien, 245). Dies galt sowohl für den Zugriff auf neue pflanzengenetische Ressourcen als auch für die eigene Karriere. Ein wichtiger Aspekt des Bandes liegt in der Thematisierung der Nachkriegskarrieren der beteiligten Wissenschaftler. Heim kann zeigen, wie bruchlos sich die meisten Karrieren fügten (wie im Falle Stubbes) und die Forscher ihre Themen in nachkriegstaugliche Fragestellungen umformten. Dies verdeutlicht insbesondere das Beispiel Heinrich Krauts vom KWI für Arbeitsphysiologie, der während des Krieges den Ernährungsbedarf von "Ostarbeitern" und sowjetischen Kriegsgefangenen im Menschenversuch bestimmte (650 kcal weniger als für einen deutschen Arbeiter veranschlagt). In den 1950er-Jahren leitete er das MPI für Ernährungsphysiologie, arbeitete in den 1960er-Jahren für ernährungswissenschaftliche Projekte in Afrika und wurde schließlich (1968 bis 1973) Präsident der deutschen Welthungerhilfe.

Gegenüber diesen eindrücklichen und thematisch eng verbundenen Studien bietet der von Heim herausgegebene Sammelband einen breiteren Einblick in die Grundlagen der landwirtschaftlichen Züchtungsforschung im Zweiten Weltkrieg. Einzelne Beiträge untersuchen die Entstehung der akademischen Pflanzenzucht in Deutschland (Jonathan Haarwood), vergleichen die Debatte um landwirtschaftliche Modernisierung und Eugenik in Deutschland, der Sowjetunion und den USA (Michael Flitner) oder geben ein praktisches Beispiel für die im besetzten Polen durchgeführte landwirtschaftliche Forschung (Stanislaw Meducki).

Zusammengenommen bieten beide Bände einen kompetenten und sehr differenzierten Überblick über die landwirtschaftlichen Züchtungsforschungen im Nationalsozialismus und deren Verbindung zur Expansionspolitik. Wie jedoch die Übertragung von Stereotypen aus der Pflanzengenetik auf den humanwissenschaftlichen Diskurs (Eugenik, Rassenlehre) genau funktionierte, inwiefern die "Landwirtschaft [...] als Schrittmacher in der eugenischen Debatte" wirkte (Kalorien, 14), wird nicht näher erörtert. Hier können weiter führende Forschungen anschließen.

Isabel Heinemann