John Jeffries Martin: Myths of Renaissance Individualism (= Early Modern History. Society and Culture), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004, x + 187 S., ISBN 978-0-333-64308-2, GBP 42,50
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Am 18. Juli 1573 wurde der Maler Paolo von der venezianischen Inquisition verhört. Gegenstand seiner Befragung war ein erst kürzlich erschaffenes Ölgemälde, das Jesus Christus mit seinen Jüngern zeigte und den Titel "Das letzte Abendmahl" trug. Die Inquisitoren waren von der Darstellung irritiert, da sie Personen mit einbezog, die nicht biblisch sind. Auf die Frage, was ein Mann mit blutender Nase, Zwerge, Betrunkene und andere mehr auf dem Bild zu suchen hätten, gab der Maler versiert zu Protokoll, dies seien reine Erfindungen - und im Übrigen hätte auch Michelangelo sich darstellerische Freiheiten erlaubt, als er Nackte in der Sixtinischen Kapelle zur Darstellung brachte. Der Maler, um den es sich hier handelt, ist kein geringerer als Paolo Veronese; sein Prozess ist berühmt und so ist es auch sein Gemälde, das mit dem Titel "Das Fest im Hause Levis" heute in der Accademia dell'Arte in Venedig zu bewundern ist. Paolo Veronese hatte als Reaktion auf den Prozess kurzerhand den Titel - nicht aber den Inhalt - des Gemäldes verändert und somit der Inquisition ein Schnippchen geschlagen. War Paolo Veronese daher ein selbstbewusstes, willensstarkes Individuum?
Mit diesem Inquisitionsprozess des Paolo Veronse eröffnet John Martin sein Buch "Myths of Renaissance Individualism". Der Titel ist irreleitend - und ist es doch nicht, denn die Dekonstruktion der im Titel benannten Mythen über das Renaissanceindividuum werden in Form einer kritischen Lektüre von Jacob Burckhardt und Stephen Greenblatt durchaus geleistet: Weder waren Männer und Frauen in der Renaissance so autonom, wie Burckhardt es behauptete, noch waren ihre Selbstentwürfe reine kulturelle Konstrukte, wie es das "self-fashioning" Konzept von Greenblatt suggeriert. Allerdings bricht Martin nicht mit der Idee, dass etwas Neues in der Renaissance möglich wurde, nämlich die Art und Weise, wie Frauen und Männer über sich selbst reflektieren konnten - und dass dieses "Neue" durchaus Affinitäten zu den modernen und postmodernen Repräsentationen von Identität aufweist. Damit verwirft Martin diese beiden Identitätsentwürfe nur, um sie als die Facetten eines Selbst zu benennen, das relational ist - relational, da es in vielfältigen Formen die Beziehung zwischen der inneren Erfahrungswelt und äußeren Darstellung auslotet. Insofern sind Martins Identitäten zwischen Burckhardt und Greenblatt angesiedelt, denn Identität bezeichnet nach ihm den Erfahrungsraum zwischen innerer Wahrnehmung und äußerer Darstellung -"identity was not about individuality but rather explicitly about the problem of the relation of one's inner experience to one's experience in the world " (15, Hervorhebungen des Autors). Dieses Spannungsverhältnis bzw. dieser Erfahrungsraum ist es, den Martin in den der Einleitung folgenden fünf Kapiteln beschreibt - das abschließende Kapitel bietet einen Essay darüber, warum sich die modernen und postmodernen Mythen zur Entstehung des Individuums so lange gehalten haben.
Wie sieht nun das Selbst aus, das Martin uns zur Lektüre anbietet und aus welchen Quellen speist es sich? Als Historiker geht Martin emphatisch ad fontes - das "Neue" seiner Perspektive bestünde darin, den Inquisitoren über die Schulter zu schauen, eine Behauptung, die für den englischsprachigen Raum durchaus zutrifft.[1] Ergänzt werden die venezianischen Verhörprotokolle durch einige zeitgenössische Porträts sowie durch literarische, philosophische und theologische Texte des vorwiegend italienischen 16. und 17. Jahrhunderts (etwa Giovanni della Casa, Baldassare Castiglione, Paolo Gaiano, Tommaso Garzoni, Stefano Guazzo, Martin Luther und Michel de Montaigne). Mit einer anthropologisch inspirierten Methode nähert sich Martin der Formenvielfalt der Selbstentwürfe von frühneuzeitlichen Männern und Frauen. Dabei versucht er, diese Menschen "on their own terms" (19) zu verstehen. Was dabei herauskommt, sind fünf verschiedene Modelle, in denen sich Männer und Frauen in der Renaissance immer wieder selbst entwarfen. Da das Renaissance-Selbst, das Martin in den Quellen entdeckt, proteisch ist, konnte es von einer Form in die andere schlüpfen. Damit sind die unterschiedlichen Ausprägungen des Selbst, die im zweiten Kapitel kurz vorgestellt werden, nicht starr, sondern dynamisch und wandelbar.
Zu diesen Modellen zählt das "soziale Selbst" ("social or conforming self", 30), ein Selbstentwurf, auf den Martin zufolge am häufigsten zurück gegriffen wurde. Determinierend wirkte beim sozialen Selbst die soziale Positionierung. Damit ist das Netzwerk - nach Martin "overlapping groupings" (22) - gemeint, in dem Bewohner von Renaissancestädten lebten, wie etwa die Familie und die Nachbarschaft, aber auch die Zünfte, Bruderschaften und die Kirchensprengel. Zudem befanden sich beim sozialen Selbst die inneren Überzeugungen mit der sozialen Rolle in Einklang - es gab demnach keine offensichtliche Diskrepanz im Erfahrungsraum zwischen Innen und Außen. Dies war beim umsichtigen oder auch vorsichtigen Selbst ("prudential self") anders. Zu diesem vorsichtigen und verschlossenen Menschenschlag zählten vielfach Häretiker, die ihre wahren religiösen Gefühle und Überzeugungen vor anderen geheim hielten - nicht nur im Gerichtssaal der venezianischen Inquisition, sondern auch in der katholischen Welt. Diese Spannung zwischen Innen und Außen führte zu einer gewissen Zerrissenheit - Martin spricht hier vom "divided self" (48) -, aber machte auch die Erfahrungen intensiver Innerlichkeit möglich. Während ein "prudential self" demnach genau abwog, was er anderen mitteilte, setzte sich das "performative self" ganz bewusst in Szene - im Gerichtssaal und auf der Straße. Die Performanz, wie etwa ein Ritual, das sich an der katholischen Liturgie orientierte, diente dabei nicht grundsätzlich der Verschleierung von Gefühlen oder Überzeugungen - im Gegenteil. Diese konnten auch wirksam inszeniert werden und somit die "distinction between one's internal and external dimensions of experience" (81) aufheben. Während bei diesen drei Selbstentwürfen die Beziehung zwischen der inneren Überzeugung und ihrer Darstellung nach außen immer unterschiedlich entworfen wurde, war das "porous self" nach außen durchlässig - so porös, dass selbst Dämonen von diesen Menschen Besitz ergreifen konnten. Denn die Grenzen zwischen der inneren und der äußeren Welt waren im Verständnis der Renaissancemenschen durchlässig - es ist die Haut, die als porös und durchlässig erfahren wurde. Die Oberfläche des Körpers war mithin "a site of the age's most unsettling anxieties about identity" (100). Unter dem Einfluss der Reformatoren wie etwa Martin Luther, der das Ideal von Aufrichtigkeit propagierte, und der "Entzauberung" der Höfe entstand in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dann eine "neue Form von Identität" ("new form of identity", 38 und 104), nämlich das "sincere self". Diese aufrichtigen Menschen trugen ihr Herz auf der Zunge: Ihnen war das Mitteilen und das Enthüllen ihrer Überzeugungen ein Bedürfnis. Die Übereinstimmung zwischen Sprache auf der einen und Gefühlen und Handlungen auf der anderen Seite wies seit dem 16. Jahrhundert eine moralische Komponente auf.
Mit seinem Buch "Myths of Renaisance Individualism" leistet Martin einen interessanten und wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Selbstkonzeptionen von Männern und Frauen in der Frühen Neuzeit. Identität als immer wieder neu zu gestaltende Erfahrungsräume zu definieren kommt zwar dem modernen Verständnis gefährlich nah, wird aber in Martins Narration durch zahlreiche Quellen historisiert und auch belegt. Quellenkritik wäre bei der Vielzahl der Quellen, die Martin für seine Analyse heranzieht, sicherlich ein lohnendes Unterfangen gewesen, denn ein textuelles Ich - und als solches tritt es uns in den Quellen zwangsläufig immer entgegen - hat sich den Anforderungen der Gattung zu beugen und bringt sich in verschiedenen historischen Kontexten - man denke nur an die Verhörprotokolle! - unterschiedlich und nicht nur freiwillig zur Sprache. Zudem wäre eine Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Literatur fruchtbar gewesen. So schreibt John Martin vor allem gegen Burckhardt und Greenblatt, anstatt sich mit anderen Autoren auf die Suche nach den verschiedenartigen Ausprägungen des "Renaissance self" zu begeben. Trotz dieser Kritikpunkte bleibt "Myths of Renaissance Individualism" ein anregendes Buch, das uns in elegant kontextualisierten Fallgeschichten unbekannte Persönlichkeiten nahe bringt: So lernen wir Elena la Draga kennen, die von Dämonen besessen war, und vollziehen mit Evangelista, Bortholo und Fabio Inversionsriten, die identitätsstiftend fungierten. Ihre Selbstentwürfe waren - ähnlich dem von Paolo Veronese - weder autonom noch reine kulturelle Konstrukte, sondern diese Frauen und Männer entwarfen sich innerhalb eines Beziehungsgeflechts, das das innere Erleben und die äußere Welt thematisierte.
Anmerkung:
[1] Der Band von Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, fehlt bezeichnenderweise in der Bibliografie.
Daniela Hacke