Klaus-Jürgen Bremm: Von der Chaussee zur Schiene. Militärstrategie und Eisenbahnen in Preußen von 1833 bis zum Feldzug von 1866 (= Militärgeschichtliche Studien; Bd. 40), München: Oldenbourg 2005, XII + 295 S., ISBN 978-3-486-57590-3, EUR 24,80
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Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Entstehung der modernen Vereinigten Staaten ohne die Eisenbahnen undenkbar gewesen wäre - ohne ihre Rolle für die politische Nationswerdung im Sezessionskrieg 1861-65 und für das transkontinentale Zusammenwachsen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts. Doch auch die Gründung des deutschen Nationalstaates ist zumindest faktisch aufs Engste mit der Eisenbahngeschichte verknüpft. Das gilt nicht nur für die Rolle der Bahnen für Handel und Schwerindustrie, die die politische Einigung mit vorbereitet haben. Vielmehr ist für den Sieg in den Einigungskriegen 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich der Eisenbahnaufmarsch der preußischen beziehungsweise norddeutschen Truppen ganz klar mitverantwortlich gewesen. Er ermöglichte (man kann auch sagen: erzwang) 1866 den konzentrischen Einmarsch der preußischen Armeen in Böhmen, der die österreichische Nordarmee von Anfang an in ein operatives Ungleichgewicht brachte, von dem sie sich bis zur Niederlage von Königgrätz nicht erholen konnte. 1870 ermöglichte es die überlegene Eisenbahnnutzung dem Norddeutschen Bund, in etwas über einer Woche mehr als eine Million Mann an die Rheingrenze zu werfen und damit Frankreich von vornherein in die Defensive zu zwingen. Die Nachgeschichte beider Siege war bekanntlich die Integration immer ausgefeilterer Eisenbahnfahrpläne in die Mobilmachungs- und Aufmarschplanung des Deutschen Reiches, die im Endprodukt der Julikrise 1914 zweifellos miteskalierend gewirkt hat.
Die Geschichte der militärischen Nutzung der Eisenbahnen in Preußen-Deutschland ist damit für die Historiografie des 19. Jahrhunderts insgesamt von hohem Interesse. Man mag sich daher wundern, dass es seit Dennis E. Showalters "Railroads and Rifles" [1] - also seit mehr als 30 Jahren - keine zusammenfassende Untersuchung zu diesem Thema gegeben hat, und seit noch viel längerer Zeit keine, die auf eigener Quellenforschung basierte, stützte sich doch Showalter vornehmlich auf publiziertes Material. Diese Lücke wird nun geschlossen von Klaus-Jürgen Bremms "Von der Chaussee zur Schiene", neu erschienen in der gleichen Buchreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, in der auch Burkhard Kösters ähnlich grundlegende Studie zur militärischen Nutzung der Eisenbahnen in Österreich publiziert wurde [2].
Bremm stützt sich vor allem auf Parallelüberlieferungen militärischer Akten in den Beständen preußischer Zivilministerien im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, ferner auf Akten der Bundesmilitärkommission im Bundesarchiv sowie für einige Fallstudien auf Archivalien im Landeshauptarchiv Koblenz, um die Frühgeschichte der Beschäftigung des preußischen Militärs mit dem neuen Transportmittel Eisenbahn minuziös nachzuzeichnen. Dabei widmet sich sein erster Hauptteil frühen, von ziviler Seite vorgebrachten Projekten nationaler Eisenbahnnetze und der noch eher zögerlichen Reaktion der preußischen Armee darauf. Für dieses Zögern war bekanntlich vor allem das gerade erst nach 1815 auf den neuesten Stand gebrachte Kunststraßennetz verantwortlich, demgegenüber die für den Transport größerer Verbände, zumal mit Geschützen und Pferden, noch kaum geeignete Eisenbahn in der Tat vorläufig wenig konkurrenzfähig war. Weitere Bedenken richteten sich auf die mögliche Umnutzung von Bahntrassen durch den Feind im Falle einer Invasion. Dabei ging es - eine zumindest dem Rezensenten neue Erkenntnis, die die übliche Ridikulisierung solcher Befürchtungen deutlich relativiert und aus der Bremm vielleicht zu wenig macht - nicht etwa darum, dass der Feind gleich selbst auf der Eisenbahn mit Volldampf ins Land hineinrollen könne, sondern vielmehr um die mögliche Umnutzung des Bahndammes als Kunststraße selbst nach Zerstörung des Gleiskörpers (45).
Generell aber rang sich das Militär - das heißt hier meistens: der Generalstab - binnen weniger Jahre zu der Erkenntnis durch, dass "wohl der Mangel, nicht aber das Vorhandensein guter Kommunikationen die militärischen Interessen beeinträchtigen kann" (zit. nach 61), und begann das neue Transportmittel zunehmend in seine Operationsplanungen zu integrieren. Die anfängliche Skepsis, dass Eisenbahnen den Nutzen von Festungen relativieren könnten, wich der Integration der neuen Verbindungslinien in das Festungsnetz, das so seinen Wert für die Defensive im Gegenteil zu vervielfachen schien. Der erste Hauptteil schließt mit einem literaturbasierten vergleichenden Ausblick auf die frühe militärische Eisenbahnnutzung in Frankreich und Österreich, der für Preußen anerkanntermaßen schmeichelhaft ausfällt.
Der zweite und wesentlich umfangreichere Hauptteil von Bremms Studie untersucht die institutionelle Aneignung des neuen Transportmittels durch das preußische Militär. Das Spektrum dieses grob chronologisch aufgebauten Kapitels erstreckt sich dabei von der grundlegenden Frage der Trägerschaft neuer Bahnen - privat oder staatlich - über die Streckenplanung zwischen ziviler Wirtschaftlichkeit und militärisch-operativer Nützlichkeit, die organisatorischen, administrativen, reglementarischen und technischen Vorkehrungen für die militärische Nutzung der Bahnen in Frieden und Krieg bis hin zur Analyse praktischer Erfahrungen mit Truppentransporten in Manövern und Mobilmachungen. Eigene Unterkapitel widmen sich dem preußischen Bemühen um ein gesamtdeutsch angelegtes strategisches Bahnnetz sowie - natürlich - breit der Nutzung und Rolle der Bahnen in den Kriegen von 1864 und 1866.
Bremms verdienstvolle Untersuchung ist in jeder Hinsicht zu begrüßen und wird sicher auf Jahrzehnte hinaus das Standardwerk zum Thema Eisenbahn und Militär in Preußen bis zu den Einigungskriegen bleiben. Daran besteht kein Zweifel, und davon sollen die beiden einzigen Kritikpunkte, die der Rezensent ansprechen zu müssen glaubt, nicht ablenken.
Zum Einen ist der diskontinuierliche Aufbau der Studie stellenweise selbst für den informierten Leser leicht verwirrend. Der Verfasser hat zwischen thematischem und chronologischem Aufbau keine rechte Entscheidung treffen wollen, dementsprechend treten zwischen den beiden Hauptteilen zeitliche Überschneidungen auf. Auch deren inhaltliche Abgrenzung ist etwas unklar; so sind in den institutionellen Teil erneut konzeptionelle Überlegungen eingestreut.
Zum Anderen ist die Erkenntnis des Buches, "früher und schneller als gedacht" (so der Titel des Schlussfazits), vielleicht weniger neu oder überraschend, als Bremm annimmt. Weder gelingt es der Untersuchung, einen großen Enthusiasmus der preußischen Armee für die Eisenbahn lange vor der Jahrhundertmitte nachzuweisen - im Gegenteil bestätigt sie hier weitgehend die aus der Literatur bekannte anfängliche Skepsis der Militärs. Noch ist die Einsicht, dass - anders als die Moltke-Hagiografie die Zeitgenossen glauben machen wollte - schon frühere Generalstabschefs der Eisenbahn durchaus vorsichtig aufgeschlossen gegenüberstanden, notwendig sehr revolutionär oder erst aus Archivstudien zu gewinnen; wenigstens dem Rezensenten kam sie schon in Kenntnis der verfügbaren Literatur ziemlich bekannt vor.
Bremms Studie besticht vor allem durch ihre thematisch umfassende Anlage und ihre Quellensättigung; die thesenhafte Zuspitzung ist ein vielleicht unnötiger Nebenkriegsschauplatz.
Anmerkungen:
[1] Dennis E. Showalter: Railroads and Rifles. Soldiers, Technology, and the Unification of Germany, Hamden, CT 1975.
[2] Burkhard Köster: Militär und Eisenbahn in der Habsburgermonarchie 1825-1859 (Militärgeschichtliche Studien, Bd. 37), München 1999.
Dierk Walter