Günter Buchstab / Philipp Gassert / Peter Thaddäus Lang (Hgg.): Kurt Georg Kiesinger (1904-1988). Von Ebingen ins Kanzleramt, Freiburg: Herder 2005, 568 S., ISBN 978-3-451-23006-6, EUR 19,00
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Im Jahr 2004 jährte sich der Geburtstag des dritten Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger zum 100. Mal. Die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Symposiums, das aus diesem Anlass in seinem Geburtsort Ebingen stattfand, werden nun in dem vorliegenden Band veröffentlicht.
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist die Erinnerung an den Kanzler der ersten Großen Koalition der Bundesrepublik weitgehend verblasst, da er, wie Philipp Gassert zutreffend hervorhebt, im Unterschied zu Adenauer oder Brandt nicht für ein konkretes Projekt oder gar eine historische Richtungsentscheidung steht (19). Auch als CDU-Vorsitzender wird er neben den "Urgesteinen" Adenauer und Kohl kaum wahrgenommen. Wenn überhaupt, ist nur die Ohrfeige durch Beate Klarsfeld haften geblieben und hat dazu beigetragen, dass Kiesinger stets der Makel seiner Mitgliedschaft in der NSdAP begleitete, so auch jüngst in dem aufsehenerregenden Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Günter Grass (FAZ, 12.8.2006), der ihn ohne Kenntnis der aktuellen Forschungslage als "Großnazi" diffamierte.
Dass über die Person des Kurt Georg Kiesinger weit mehr zu sagen ist, belegen facettenreich die Aufsätze des Sammelbandes. Neben Beiträgen zu Kiesingers Heimat und Familie werden auch seine poetischen Versuche, seine bildungs- und wirtschaftspolitischen Verdienste als Ministerpräsident von Baden-Württemberg sowie sein für die damalige Zeit noch keinesfalls übliches umweltpolitisches Engagement behandelt.
Breiten Raum nehmen die Darstellungen seiner Zeit im studentischen Verbindungswesen der Weimarer Republik und des aufkommenden Nationalsozialismus ein. So hebt Michael Hochgeschwender hervor, dass Kiesinger während des Studiums in Tübingen "keinerlei Nähe" zum Nationalsozialismus gezeigt habe und überdies auch nicht vom Antisemitismus infiziert gewesen sei, den es auch in studentischen Kreisen gab (142). Michael F. Feldkamp legt dar, dass Kiesinger nach seinem Wechsel nach Berlin vor allem wegen der vielfältigen Kontaktmöglichkeiten der Studentenkorporation "Askania" beigetreten sei (152). Er hebt hervor, dass auch die katholischen Korporationen zu den Wegbereitern der nationalsozialistischen Ideologie gezählt werden müssen und keinesfalls als "Hort des katholischen Widerstands" gelten können (173). Zwar habe der Rechtsruck der "Askania" erst nach Kiesingers aktiver Zeit stattgefunden (170, 172), doch habe auch Kiesinger zu den Studenten gehört, die "angesteckt von der NS-Ideologie, von einer starken Deutschtümelei und einem übersteigerten Nationalbewusstsein infiziert waren und sich begeistert den Nationalsozialisten anschlossen" (174). So trat Kiesinger noch vor dem Reichstagsbrand der NSDAP bei. Problematisch erscheint allerdings, dass sich Feldkamp gerade bei der Frage nach den Motiven für den Beitritt sehr stark auf Kiesingers Erinnerungen sowie seine Erklärungen während seines Entnazifizierungsverfahrens stützt.
Als interessantester und wichtigster Beitrag ist der Aufsatz von Jürgen Klöckler zu Kiesingers Weg ins Auswärtige Amt und seiner dortigen Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs anzusehen. Klöckler beschreibt Kiesingers persönliche und wirtschaftliche Lage als jungverheirateter Referendar, die ihm eine Mitgliedschaft in der NSDAP als ratsam und nützlich habe erscheinen lassen. Auch habe er wohl die Hoffnung gehabt, so die Partei im katholischen-konservativen Sinn beeinflussen zu können. Kiesinger habe sich jedoch auch von den Versprechungen der Nationalsozialisten blenden lassen (203). Sehr bald allerdings, so Klöckler, habe Kiesinger zum Regime bewusst Distanz gehalten und auf eine Karriere als Staatsanwalt oder Richter verzichtet und sich als Rechtsanwalt und Repetitor betätigt, ohne dem "Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund" beizutreten. Die häufig polemisch überzeichnete Darstellung Kiesingers als Nazi-Karrieristen wird sich so wohl kaum aufrecht erhalten lassen. Mit Hilfe eines ehemaligen Korporationsbruders gelang es Kiesinger im Frühjahr 1940, seine Einberufung zu umgehen und im Auswärtigen Amt unterzukommen. Überzeugend legt Klöckler dar, dass die bürokratischen Machtspiele zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Propagandaministerium um die Vorherrschaft in der Auslandspropaganda einen Großteil von Kiesingers Arbeitszeit in Anspruch genommen haben. Die später oft geäußerte Behauptung, Kiesinger sei der entscheidende Verbindungsmann zum Propagandaministerium und damit sozusagen Goebbels' verlängerter Arm ins Auswärtige Amt gewesen, wird von Klöckler klar zurückgewiesen (213, 216). Zudem verweist er auf den zunehmenden Bedeutungsverlust von Kiesingers Abteilung. Auch zur Gretchenfrage nach Kiesingers Mitwisser- oder gar Täterschaft am Völkermord nimmt Klöckler eindeutig Stellung. Kiesingers Tätigkeit habe nachweislich nicht der Implementierung der "Endlösung der Judenfrage" gedient (218). Zur Frage der Mitwisserschaft gibt Klöckler zu bedenken, dass die Tätigkeits- und Lageberichte der Einsatzgruppen im Osten auch an alle Abteilungen des Auswärtigen Amts gingen, und geht davon aus, dass Kiesinger spätestens ab 1943 mehr wusste, als er später zuzugeben bereit gewesen sei (219-221).
Kiesingers Redebegabung und sein Talent zur Vermittlung kamen - darauf gehen verschiedene Autoren ein - seinem beruflichen Aufstieg nach dem Krieg stark zugute, so als außenpolitischer Debattenstar der Union in den frühen 50er-Jahren, was von Philipp Gassert untersucht wird, aber auch bei seiner Rolle als einem der Mitbegründer des Bundeslandes Baden-Württemberg. Den Höhepunkt von Kiesingers "Vermittlungstätigkeit" bildet schließlich seine Zeit als Bundeskanzler. Gabriele Metzler untersucht die Reformprojekte der Großen Koalition und verweist darauf, dass es der Regierung Kiesinger vielfach gelungen sei, "bestehende Verkrustungen der bundesdeutschen Politik aufzuweichen" (445) und somit auf vielen Feldern den Durchbruch zur Modernisierung einzuleiten.
Der Aufsatz von Oliver Bange zur Ost- und Deutschlandpolitik bietet im Vergleich zur einschlägigen Literatur leider nur wenige Neuigkeiten und fällt überdies durch Flüchtigkeitsfehler und eine sehr eigentümliche und ärgerliche Zitierweise bereits in den "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland" veröffentlichter Dokumente negativ auf, die den Eindruck intensiverer eigener Archivarbeit erwecken soll, als wohl tatsächlich stattgefunden hat.
Kiesingers Zeit als Vorsitzender der CDU wird von Hans-Otto Kleinmann untersucht, der dessen Verdienste um die programmatische und organisatorische Neuerung der Partei hervorhebt, gleichzeitig aber auch dessen mangelnde Tatkraft kritisiert. Das Fehlen eines Netzwerks persönlicher Parteifreunde trug nicht unwesentlich zu Kiesingers schnellem Autoritätsverfall nach dem Verlust der Regierungsmacht 1969 bei. Auch innerhalb der Unionsfraktion spielte Kiesinger, wie von Andreas Grau dargelegt wird, bald nur noch eine untergeordnete Rolle, so etwa im Ringen um die Ostverträge.
Insgesamt bietet der vorliegende Sammelband teilweise neue und überraschende Einblicke, wenn auch einige Beiträge etwas losgelöst von der Hauptperson erscheinen. Dennoch liefert er wichtige neue Erkenntnisse über einen Mann, der zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.
Daniela Taschler