Christopher Wilk (ed.): modernism. designing a new world 1914-1939, London: V&A 2006, 441 S., 360 colour plates, 60 b&w ill., ISBN 978-1-85177-474-6, GBP 45,00
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Das Victoria and Albert Museum in London startete im Jahr 2000 eine Ausstellungsreihe, die den großen Epochen der Designgeschichte gewidmet ist. Am Anfang stand das Thema "Art Nouveau", 2003 folgte "Art Deco", jetzt ist "Modernism" ("Moderne") an der Reihe, und in Planung ist eine Ausstellung über das Design in der Zeit des kalten Krieges. Die mit großem personellen wie auch finanziellen Aufwand in Szene gesetzten und vom Publikum sehr gut angenommenen Ausstellungen entstanden meist unter der Federführung der jeweiligen Kuratoren des V&A. Für die "Modernism"-Ausstellung zeichnete Christopher Wilk verantwortlich, der seit 1988 am V&A tätig ist, derzeit die Abteilungen für Möbel, Textil und Mode betreut und zuletzt die "British Galleries" eingerichtet hat.
In der Einleitung des Katalogs erläutert Wilk seinen Ansatz. Für ihn ist die Moderne die einflussreichste Bewegung des letzten Jahrhunderts: "the most powerful force in creation of twentieth-century visual culture" (12). Nicht als Stil will Wilk die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts verstanden wissen, sondern als mehr oder weniger lose Ideensammlung, als kosmopolitische und internationale Bewegung mit ästhetischer wie sozialer und politischer Agenda, verbunden im Glauben an die Möglichkeiten der Maschine und der industriellen Technik, an die Wiedervereinigung der Künste und die Neuerfindung der gestalteten Welt - und das Ganze mit der Tendenz zur Abstraktion.
Wilk ist sich der Komplexität des Begriffs "Modernism" bewusst, wenn er schreibt, dass eine Definition nicht oder nur annäherungsweise möglich sei und deshalb auf einen allgemeinen Konsensus verweist. Geschickt nimmt er dabei den potenziellen Kritikern den Wind aus den Segeln - auch bezüglich der zeitlichen Eingrenzung seines Projektes. Er spricht sowohl zeitlich frühere als auch spätere Erscheinungen des "Modernism" an, verweist bei dem Datum 1914 auf Nikolaus Pevsner als gewichtigen Gewährsmann und begründet den Endpunkt 1939 mit den begrenzten Ressourcen eines Ausstellungsvorhabens sowie dem geplanten Nachfolgeprojekt. Sicherlich kann man seiner Aussage, dass die Kernzeit der Moderne zwischen den Weltkriegen anzusetzen ist, uneingeschränkt zustimmen, aber ein Blick auf die Genese der Moderne vor dem Ersten Weltkrieg sowie auf die bis zur Gegenwart reichenden Ausläufer (Postmoderne etc.) wäre auch sehr aufschlussreich gewesen, hätte jedoch wohl den Rahmen des Projektes gesprengt.
Zudem handelt es sich hierbei um einen Ausstellungskatalog und damit ist man im Gegensatz zur einer umfangreichen Monografie immer auch auf die Dinge angewiesen, die vorhanden und greifbar sind, sich gleichzeitig aber auch zu einem Bild zusammensetzen lassen, das dem Besucher den jeweiligen Sachverhalt möglichst eindeutig und "unterhaltsam" veranschaulicht und erklärt. Selbstredend spielen dabei auch die räumlichen und finanziellen Möglichkeiten eine entscheidende Rolle.
Katalog und Ausstellung sind nicht etwa chronologisch oder nach einzelnen Gattungen aufgebaut, ausgenommen die Kapitel über die Sitzmöbel, sondern nach thematischen Schwerpunkten gegliedert, die im Katalog durch einführende Essays namhafter Wissenschaftler näher erläutert und in Beziehung zu den einzelnen Objekten gesetzt werden. Das bunt gemischte Spektrum reicht von den verschiedenen, in den seltensten Fällen auch verwirklichten Utopien der Moderne, von der Bedeutung und dem "Bild" der Maschine, über Theater und Film, Körperkultur und Natur, bis zu den nationalen Ausprägungen der Moderne und deren Auswirkungen auf die Alltagskultur der Massen.
Nicht eingeengt von Gattungs- oder restriktiven Zuordnungskriterien gelingt es auf diese Weise, zahlreiche Facetten der Moderne zu beleuchten oder zumindest anzusprechen. Die Ausstellungsobjekte dafür kommen aus den Bereichen der Architektur, des Design, der Grafik, der Mode sowie der bildenden Kunst, des Films und der Fotografie. Sie stehen für ein Konzept der Integration aller künstlerischen Ausdrucksformen im kreativen Prozess. Auch auf schwer visualisierbare Themen wie Literatur und Musik wird verwiesen.
So überzeugend dabei die Zuordnungen der Objekte zu den jeweiligen Bereichen auch sein mögen, an manchen Stellen erscheinen sie mehr oder weniger austauschbar. So steht Marcel Breuers "Wassily"-Sessel (Kat.-Nr. 58) sicherlich zu Recht für das Kapitel "The Machine", könnte aber ebenso gut in einigen andern Abschnitten ("Building Utopia" oder "Sitting on Air") auftauchen. Gewisse Unschärfen und Überschneidungen lassen sich anscheinend kaum vermeiden, wenn ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht wird.
Neben den unausweichlichen und bekannten Ikonen der Moderne wie Alvar Aaltos Savoy Vase oder dem bereits angeführten Wassily-Sessel werden auch weniger bekannte oder selten ausgestellte Objekte gezeigt, etwa ein Röntgengerät von Ernst Pohl aus dem Jahre 1926 (Kat.-Nr. 187), das auch eine Bauhaus-Skulptur sein könnte, oder Mies van der Rohes Skizze für den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel 1935 (Kat.-Nr. 225), mit der er Adolf Hitler überzeugen wollte, ihm diesen Auftrag zu übertragen.
An der Architektur manifestiert sich in besonderem Maße die Moderne. Ausstellen lässt sich Architektur nicht im Original, sondern nur in Modellen, Plänen, Skizzen und Fotos. Entsprechend groß ist der Anteil an zweidimensionalen, meist auf Papier ausgeführten Arbeiten, der durch andere Bereiche wie Grafik und Fotografie noch erhöht wird.
Das Produktdesign reicht von der kleinen Minox-Kamera bis hin zum Stromlinienfahrzeug, dem Tatra 87. Hinzu kommen Schmuck, Textilien, Glas und Keramik, sodass auch nahezu alle Bereiche der angewandten Kunst abgedeckt sind.
Auffallend ist dabei auch eine Verschiebung des Spektrums nach Osten, eine Tendenz, die seit der Öffnung Osteuropas immer häufiger festzustellen ist, und uns mit einer Fülle selten gezeigten und erst seit Kurzem bekannten Materials konfrontiert, etwa den Arbeiten von Ladislav Sutnar, Carel Teige und Gustavs Klucis.
Bei der Bearbeitung der einzelnen Katalogtexte fällt positiv auf, dass sich die jeweiligen Autoren nicht nur mit den bereits publizierten Angaben zufrieden gaben, sondern teilweise auch neue Quellen erschlossen haben. Beispielsweise brachte die Befragung der Nachfahren des Entwerfers Clarence Karstadt interessante Ergänzungen seiner Biografie zu Tage, die für das Verständnis seiner Werke unabdingbar sind (Kat.-Nr. 251). Überhaupt sind die Katalogbeiträge nicht nur gründlich recherchiert, sondern geben dem Leser fundierte Informationen zu den einzelnen Objekten, ohne ihn mit einem Übermaß an wissenschaftlichem Ballast zu langweilen.
Alles in allem stellt der Katalog ein überaus anspruchsvolles Unternehmen dar, das umfassend über die visuelle Kultur der gestalteten Welt innerhalb eines bestimmten Zeitraums informiert und dabei nicht nur altbekanntes, sondern auch neues Material vorstellt, überzeugend in den jeweiligen Kontext einbettet und dadurch in manchen Fällen auch die Augen öffnet für andere Zusammenhänge. Damit hebt sich der Katalog wohltuend ab von den zahlreichen schnell gemachten und dadurch auch schnell überholten Designbüchern unserer Tage.
Josef Straßer