Ricarda Vulpius: Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung 1860-1920 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; Bd. 64), Wiesbaden: Harrassowitz 2005, 475 S., ISBN 978-3-447-05275-7, EUR 98,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die im Vergleich mit dem habsburgischen Galizien relative Schwäche der ukrainophilen Strömung innerhalb der Geistlichkeit der "kleinrussischen" Gebiete im Zarenreich wird u.a. mit dem repressiven Vorgehen der staatlichen und kirchlichen Organe erklärt. In ihrer nun in gedruckter Form vorliegenden Berliner Dissertation unternimmt Ricarda Vulpius dankenswerterweise den Versuch, diesen Befund einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Ein den bisherigen Forschungsstand ergänzendes Ergebnis dieser Arbeit ist, dass die geringe Zahl ukrainisch-national erweckter Geistlicher auch das Resultat der erfolgreichen Implementierung eines antikatholischen und antipolnischen Feindbildes gewesen ist. Russland, der selbsternannte Bewahrer der Orthodoxie, generierte dabei zur Schutzmacht der "slavia orthodoxa". Die Wirkungsmacht dieses Konzepts mag man heute noch in weiten Teilen besonders der östlichen Ukraine entdecken, wo nationale Identitäten zum Teil hybrid, vor allen Dingen diffus sowjetisch-russisch geprägt sind.
Die Verfasserin untersucht folgerichtig die Identitätskonstruktionen der niederen und höheren Geistlichkeit, welche sich mehr oder minder als russophil bezeichnen lassen, sowie die ungleich weniger starke ukrainophile Richtung. Auch diese, so ein Ergebnis Vulpius', teilte partiell die antikatholischen und antipolnischen Auffassungen. Dies hatte zur Folge, dass "die Abgrenzungsdiskurse auch der Ukrainophilen gegenüber den katholischen Polen weitaus schärfer ausfielen als gegenüber Rußland" (414). Doch kreierte auch diese Gruppe eigene identitätsstiftende Mythen; zu diesen gehörte der Glaube an die Existenz eines vom Russentum unabhängigen Volks (samobytnyj narod), welches demokratischer und gebildeter als der so übermächtige Bruder im Norden sei. Geistliche betrieben eine distinkte 'kleinrussische' Landeskunde, engagierten sich für den Gebrauch der im Russischen Reich im öffentlichen Diskurs seit den 1860er Jahren bis zur Revolution von 1905 praktisch nicht vorkommenden ukrainischen Sprache und partizipierten am Kult um den ukrainischen Heroen Taras Ševčenko. An dieser Stelle kongruierte die ukrainophile orthodoxe Geistlichkeit durchaus mit der säkularisierten Nationalbewegung, welche das Potential gerade der niederen Geistlichen auf dem Lande für die eigenen Ziele insgesamt aber nicht erkannte.
In einem letzten Kapitel stellt Vulpius die Entwicklung nach den Zäsuren des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen dar, welche freilich bereits als gut erforscht gelten können. Sie stellt noch einmal dar, dass 1917 nicht nur die weltliche ukrainische Nationalbewegung die Parole "Los von Petrograd" skandierte, sondern die ukrainische orthodoxe Geistlichkeit auch für ein "Los von Moskau" eintrat (379). Dies war allerdings keine gänzlich neue Erscheinung, denn auch in höheren Kirchenkreisen wurde zunehmend von einer gewissen Sonderidentität ausgegangen, auch mit Rekurs auf die Entwicklung, welche die ukrainische Orthodoxie in polnisch-litauischer Zeit genommen hatte. Die hinlänglich bekannte Entstehung der Ukrainischen Autokephalen Kirche 1920 war ein Ergebnis dessen.
Vulpius teilt zu Recht die in den letzten Jahren laut gewordene Kritik an Hrochs Periodisierung nationaler Bewegungen bei den so genannten kleinen Völkern, insbesondere die zu strenge Einteilung zwischen "kultureller" und "politischer" Phase. Gleichzeitig nimmt sie Erscheinungen wie die ohne Zweifel machtvollen Demonstrationen anlässlich des hundertsten Geburtstags von Ševčenko 1914 als Beweis dafür, dass die ukrainische Nationalbewegung bereits zu diesem Zeitpunkt zur Massenbewegung (nach Hroch Phase C) geworden sei. Hier vermag die Rezensentin ihr nicht zu folgen. Insbesondere die überwiegend indifferente Haltung der so genannten Massen gegenüber den ukrainischen Staatsbildungsversuchen in den nächsten Jahren spricht entschieden dagegen. Einige Ungenauigkeiten sollen hier angesprochen werden: Der erwähnte Vasilij A. Žukovskij war keineswegs nur ein Maler (320), sondern u.a. auch Erzieher des späteren Aleksandr II. sowie einer der bedeutendsten russischen Romantiker. Simeon Polockij/Polac'kyj (53) war kein ukrainischer Geistlicher, sondern - wenn man schon für das 17. Jahrhundert nationale Zuschreibungen vornehmen will - bestenfalls ein weißrussischer. Zudem sollte m.E. Rus'kaja zemlja besser nicht mit "Rus'isches Land" (122) übersetzt werden.
Kerstin S. Jobst