Alfons Kenkmann / Hasko Zimmer (Hgg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen: Klartext 2005, 229 S., ISBN 978-3-89861-531-0, EUR 19,90
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Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit hat in Deutschland zu Recht einen hohen Stellenwert. Dabei hat die - aktuelle - Notwendigkeit, gleich zwei Diktaturen historisch und gesellschaftlich aufzuarbeiten, parallele Herausforderungen anderer Länder lange Zeit zu sehr aus dem deutschen Blickfeld verdrängt. Die weltweiten Umbrüche der letzten drei Jahrzehnte gerade in Lateinamerika, Südafrika oder Osteuropa sowie das internationale Interesse an vermeintlich nationalen Vergangenheiten - besonders deutlich an der Aufarbeitung kolonialer Epochen oder des Sklavenhandels - lassen dagegen die "globale Dimension der Thematik" (8) erkennen. Es ist das Verdienst des vorliegenden Sammelbandes, der aus einer Tagung im Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster, im September 2002 hervorgegangen ist, die angesprochene Ausweitung aufzugreifen und in Einzelstudien zu dokumentieren.
Dabei operieren die Herausgeber mit dem sehr weiten Begriff des "Umgangs mit der Vergangenheit": Darunter lassen sich die unterschiedlichen Zugänge von "Vergangenheitspolitik", "Wiedergutmachung", Historikerdebatten, der "Historical" wie der "Transitional Justice" fassen, die sich kaum immer eindeutig voneinander abgrenzen lassen. [1] Um das Fazit vorwegzunehmen: Den Königsweg einer adäquaten, in allen Belangen befriedigenden Vergangenheitsaufarbeitung können die Autoren nicht präsentieren. Das gilt für eine juristische Aufarbeitung, die die Opferstimmen außer Acht lässt und/oder, wie im westlichen Nachkriegsdeutschland, von einer ihrerseits belasteten und somit völlig ungeeigneten Richterschaft abhängt (von Miquel). Das gilt - angesichts des hohen internationalen Prestiges überraschend - auch für Wahrheitskommissionen nach südafrikanischem Vorbild, die wiederum nicht von einer ausreichenden Strafverfolgung der Täter flankiert werden (Gunnar Theißen).
Von daher lesen sich die einzelnen Beiträge wie eine interdisziplinär angelegte Auflistung integraler Bestandteile eines gesamtgesellschaftlichen und politischen Umgangs mit der Vergangenheit. Sie beschreiben neben nationalen Voraussetzungen zugleich unumgängliche oder zumindest förderliche internationale Rahmenbedingungen entsprechender Bemühungen: Dabei sei angesichts der durchaus kritischen - im Falle Jugoslawiens/Kroatiens umstrittenen (Höpken; Gehrmann) - Ergebnisse der Studien sowie der im Band nicht weiter diskutierten russischen oder türkischen Entwicklungen dahingestellt, ob die "negative Erinnerung" tatsächlich zu einer "globalen Norm" wird (Hasko Zimmer) - "postdiktatorische Übergangs- und Transformationsprozesse", das machen auch einige der im Band versammelten Studien deutlich, laufen ja nicht zwangsläufig auf "Demokratisierung und innergesellschaftliche Aussöhnung" (7) hinaus, und die vergangenheitspolitischen Implikationen des chinesischen Wirtschafts- und Gesellschaftsexperimentes sind mittelfristig kaum vorherzusagen.
Der Band gliedert sich in zwei Hauptabschnitte (mit nicht immer ganz eindeutigen Zuordnungen). Nach einer knappen Einführung der Herausgeber beleuchtet Moshe Zimmermann am Beispiel Israels die besondere Brisanz der geschichtspolitischen Instrumentalisierung der Shoah im israelisch-palästinensischen Konflikt. Die folgenden "Bilanzen" erfassen argentinische, chilenische, südafrikanische, japanische und zweierlei deutsche Erfahrungen: Angesichts der unterschiedlichen nationalen Wege und Ergebnisse müssen die Autoren zwangsläufig eigene, mitunter isoliert scheinende Schwerpunkte setzen. Im Verbund geben die Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen dem Leser jenseits informativer Länderinformationen aber ein breites Spektrum von Analyseinstrumenten, Fragestellungen und Bewertungskriterien an die Hand, die für weitere empirische Forschungen zu berücksichtigen sein werden: Dazu zählt etwa der vergleichende Zugriff, der bei allen nationalen Sonderwegen der Thematik inhärente internationale Problemlagen berücksichtigen kann (Ruth Fuchs/Detlef Nolte; im 2. Abschnitt auch Wolfgang Höpken). Instruktiv ist eine - für den Laien zugleich erfreulich verständliche - Einführung in strafrechtsdogmatische Aspekte (Amelung), die für die Bewertung juristischer Aufarbeitungen von Belang ist, oder etwa eine Diskussion individueller Kriegserinnerungen, die aus Anlass des Generationswechsels zumindest indirekt zu diachronen Fragestellungen hinleiten kann (Petra Buchholz).
Auch der zweite Hauptteil des Bandes lebt von der interdisziplinären und regionalen Vielfalt. Hervorzuheben ist hier neben der bereits erwähnten, komparativen Beschreibung der jugoslawischen Bürgerkriegsparteien (Wolfgang Höpken) der instruktive Aufriss von Rainer Huhle über Aufgaben und Möglichkeiten internationaler Strafgerichtshöfe. Deren Ausstrahlung kann weit über die direkte Ahndung von Verbrechen hinausgehen: Die Beispiele Jugoslawien und besonders Ruanda zeigen indes, dass international eingesetzte Gerichte zugleich von anhaltendem internationalen Interesse - oder internationalem Druck auf einheimische Regierungen - sowie nationaler Kooperation abhängig sind. Bei rund 800.000 Opfern des Mordens in Ruanda im Jahr 1994 ist die rechtskräftige Verurteilung von bislang sieben (!) Tätern durch das internationale Tribunal wahrlich "keine unbedingt überzeugende Bilanz" (143). Die Bevölkerung reagierte u. a. mit einer Reaktivierung der "Gacaca-Justiz". Diese Schiedssprüche gesellschaftlicher Autoritäten vor Ort legten neben Schuldzuweisungen zugleich Verpflichtungen zum Schadensersatz fest. Auf diese Weise kristallisiert sich auch in diesem Beispiel neben der Wahrheitsfindung und Bestrafung der Täter eine angemessene - nicht nur materiell zu verstehende - Kompensation der Opfer als wichtiger Bestandteil einer umfassenden Vergangenheitsbewältigung heraus.
Eine interdisziplinäre Leserschaft wird dem Band weitere Anregungen entnehmen können, die über ein rein historisch geleitetes Erkenntnisinteresse hinausgehen. Auf Grund der verzögerten Publikation der Konferenzbeiträge (nach knapp dreieinhalb Jahren) mögen sich im Übrigen einige hier diskutierte Zukunftsperspektiven bereits wieder in Gegenstände historischer Forschung verwandelt haben.
Anmerkung:
[1] Vgl. die ambitionierte Tätigkeit des International Center for Transitional Justice, New York (www.ictj.org ) sowie die Vielfalt relevanter Aspekte in Manfred Berg/Bernd Schäfer (Hg.): Historical Justice in international perspective, Cambridge 2007.
Andreas Hilger