Rezension über:

Lionel Lambourne: Japonisme. Cultural Crossings between Japan and the West, Berlin: Phaidon Verlag 2005, 240 S., 220 Farb-, 30 s/w-Abb., EUR 59,95

Rezension von:
Hannelore Dreves
Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Michaela Braesel
Empfohlene Zitierweise:
Hannelore Dreves: Rezension von: Lionel Lambourne: Japonisme. Cultural Crossings between Japan and the West, Berlin: Phaidon Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/11/10660.html


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Lionel Lambourne: Japonisme

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Schon der Griff zu diesem schön gestalteten Band löst Begeisterung aus. Ein ästhetisches Vergnügen! Dies setzt sich beim Blättern fort und hält den Leser an zahlreichen Stellen gefangen, nicht zuletzt wegen seiner hervorragenden Illustrationen. Scheinen der Titel "Japonisme" und die Gestaltung des Umschlags mit einem Motiv des Holzschnittmeisters Utamaro und van Goghs Mandelzweigen (innen) Erwartetes zu bieten, kündigt ein zweiter Blick in Lionel Lambournes Werk Überraschendes an. Der Untertitel "Cultural Crossings between Japan and the West" deutet es an: Der kulturelle Austausch zwischen Japan und dem Westen setzt früher ein und geht weit über den Zeitraum hinaus, den man gemeinhin unter Japonismus fasst. Dies macht Lambourne in der Einleitung deutlich, wenn er Siegfried Wichmann zitiert: "Japonisme is not just a style; it does not lend itself to being used as a concept in place of a style, and it cannot be pinned down to a specific period." (6) Diesem Credo scheint Lambournes Werk verpflichtet. Auf seiner Reise durch die Jahrhunderte eröffnet er dem Japaninteressierten wie dem Kenner, den Pfad der Konvention immer wieder verlassend, neue Blickwinkel. Und dies auf unterhaltsame und anschauliche Weise, weiß er doch von vielen Anekdoten zu berichten, die die Lektüre zu einem Lesevergnügen machen. Dabei stellt er zuweilen den Bezug zur Gegenwart her: Der Eiserne Vorhang erinnert an das seit dem 17. Jahrhundert für mehr als 200 Jahre lang hinter dem imaginären Bambusvorhang abgeschlossene Japan. Deshima, die künstlich aufgeschüttete Insel im Hafen von Nagasaki, ist in jener Zeit der Selbstisolation das Schaufenster zum Westen. Hier residierten die holländischen Kaufleute der Ostindischen Compagnie unter der strengen Kontrolle der Shogunatsbeamten (Abb. 4, 5). Da fällt es dem Autor schwer, keine Analogie zum Internationalen Kansai-Flughafen in der Bucht von Osaka zu ziehen - mit seinen ins Meer ragenden, ebenfalls künstlich aufgeschütteten Landebahnen. Interessant ist sein Hinweis auf den fächerförmigen Grundriss Deshimas, zumal der Fächer als wichtiges Accessoire im weiteren Verlauf der Abhandlung eine Rolle spielt. Auf unvergleichliche Weise verknüpft der Autor so einzelne Aspekte und setzt sie in den Gesamtzusammenhang. Einzelnes herausgreifen, es in den bekannten Kontext setzen und gegebenenfalls aus neuer Sicht präsentieren - dies zieht sich wie ein roter Faden durch die so detailreiche Studie. Diesem Ansatz bleibt Lambourne vom historischen Überblick im ersten Kapitel bis zum Letzten treu. In diesem 12. Kapitel schließt sich mit den beiden Abbildungen des Bandes (auch) visuell der Kreis. Ein Holzschnitt von Hokusai aus der berühmten Serie "36 Ansichten des Fuji" (Abb. 257) diente dem Kanadier Jeff Wall als Inspiration und Vorlage für eine Fotocollage von 1993 (Abb. 258). Hokusais Szene auf dem Dammweg zwischen Reisfeldern mit dem in der Ferne über Nebelschwaden aufragenden Fuji und zwei windgepeitschten, fast kahlen Bäumen inszeniert er in der Landschaft von British Columbia. Wie Hokusais Bauern und Reisende kämpfen seine Menschen gegen einen heftigen Sturm, der Papiertücher und einen Hut (!) in die Luft wirbelt. Faszinierend ist die Verknüpfung, die so zum ersten Kapitel hergestellt wird. In ihm weist der Autor auf ein Kleinod von ganz besonderem Interesse hin, das auch dem Kundigen nicht ohne Weiteres vertraut sein dürfte: Eine Aquarellmalerei des im Westen als Holzschnittmeister bekannten Hokusai mit dem gleichen Motiv (Abb. 13). In dieser Auftragsarbeit für einen Vertreter der holländischen Faktorei auf Deshima malte er im westlichen Stil. Im Gepäck des großen Japan-Forschers Philipp Franz von Siebold gelangte diese um 1826 entstandene Rarität nach Europa. Zwischen beiden Werken liegen mehr als 150 Jahre regen Kulturaustausches.

Doch was erwartet den Leser zwischen diesen beiden Kapiteln? Der Autor wendet sich Europa zu. Zunächst widmet er sich den Malern und schildert lebendig die Auf- und Anregung unter den Künstlern, die die neu angekommenen japanischen Holzschnitte für sich entdecken. Neue Sichtweisen eröffnen sich nicht allein Künstlern wie Whistler - sein berühmtestes und wichtigstes Werk in der Frühphase "The Balcony" (Abb. 21) darf nicht fehlen - und den Impressionisten. Auch die 'Großen' der französischen Grafik, der aufkommenden Plakatkunst, waren eifrige Sammler der japanischen Kunst, mit der sie sich in ihrem Werk auseinander setzten. Dabei sind die Illustrationen so platziert, dass der Leser die Rezeption des japanischen Holzschnitts in Europa chronologisch nachvollziehen kann. Querverweise in den einzelnen Kapiteln, die auf nähere Zusammenhänge hinweisen, vertiefen die Lektüre. Von Beginn an war die japanische Kunst wegen ihres neuen Zugangs von der angewandten Kunst enthusiastisch begrüßt worden. Die Rolle, die die Manga von Hokusai dabei spielten, beschreibt Lambourne und erläutert dieses in den anschließenden Kapiteln unter verschiedenen Aspekten. Ob es der Einfluss auf das Interieur mit seinen Möbeln und Stellschirmen ist, die Mode mit ihren unverzichtbaren Accessoires oder das Theater und die Literatur - 'Japanomania' allerorten, denn die Welle der Begeisterung hatte breite Bevölkerungsschichten erreicht. Mit seinem lebendigen Stil und der reichen Fülle an Details zeichnet er auch hier ein Bild der Zeit, in der Japan als Inspirationsquelle von unschätzbarem Wert war. So brauchte van Gogh die Reise nach Japan als Stimulans nicht. Er fand es in Arles. Andere wiederum - durch ihre Reiseberichte, Dokumentationen und Fotos bestens bekannt - reisten aus den verschiedensten Gründen in das Land ihrer Träume und prägten durch ihre Arbeit dort im Westen das Bild von Japan entscheidend mit. Die Fotografie - und Jahre später die ersten Filme - änderten nachhaltig die Wahrnehmung, ob man nun reiste oder nicht. In jener Zeit änderte sich auch der Focus der Sammler. Begehrte Sammlerobjekte waren, als Rudyard Kipling 1892 auf Hochzeitsreise Japan abermals besuchte, Netsuke. Diese Miniaturplastiken, die als Knebelknöpfe dazu dienten Gegenstände wie Medizindöschen (Abb. 178) als Gegengewicht am Gürtel zu halten, finden in Japonismus-Studien sonst kaum Beachtung. Cloisonné und Keramiken bzw. Satsuma-Porzellan (Abb. 180) weckten ebenso das Interesse und leiten zu der von William Morris ins Leben gerufenen Kunst- und Kunsthandwerksbewegung über, die an den fernöstlichen Formen und Glasuren Gefallen fand.

Um die amerikanisch-japanischen Beziehungen zu beschreiben (Kap. 9), wählt der Autor einen für den Leser überraschenden Einstieg: Moby Dick. Über Melvilles Kapitän Ahab kommt er zu Commodore Perry und seinen Schwarzen Schiffen. Das war 1853 Japans erste Begegnung mit Amerika - vor der eigenen Küste. Im Mittelpunkt stehen jedoch Louis Comfort Tiffany und Frank Lloyd Wright, die ihrerseits in Japan Spuren hinterließen.

Am Ende der Lektüre hat der Leser, der gerade noch in den kinematografischen Wechselbeziehungen und opulenten Werken eines Kurosawa schwelgte, einen ausführlichen Überblick über die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des japanischen Einflusses erhalten. Ein weiterer Vorzug dieses thematisch ausgewogenen Bandes ist sein Aufbau: Jedes Kapitel kann für sich gelesen werden. Dabei hilft der Index dem Suchenden schnell. Gegen all diese Vorzüge wiegen die Mängel gering. Besonders im ersten Kapitel sind einige japanische Namen fehlerhaft. Und wie kann die rituelle Selbsttötung des Schriftstellers Yukio Mishima die Nation in den 60er-Jahren schockieren, wenn er erst im November 1970 in einem spektakulären Akt Seppuku beging? Dies schmälert das Lesevergnügen jedoch keineswegs. Das Werk ist eine Bereicherung für die Bibliothek eines jeden Japaninteressierten oder Fachkundigen.

Hannelore Dreves