Rezension über:

Rainer Schoch / Matthias Mende / Anna Scherbaum (Hgg.): Albrecht Dürer. Das druckgrafische Werk. Band III: Buchillustrationen, München: Prestel 2004, 576 S., 468 Abb., ISBN 978-3-7913-2626-9, EUR 125,00
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Rezension von:
Gerd Unverfehrt
Kunstgeschichtliches Seminar, Georg-August-Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Gabriele Wimböck
Empfohlene Zitierweise:
Gerd Unverfehrt: Rezension von: Rainer Schoch / Matthias Mende / Anna Scherbaum (Hgg.): Albrecht Dürer. Das druckgrafische Werk. Band III: Buchillustrationen, München: Prestel 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/11/5043.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Rainer Schoch / Matthias Mende / Anna Scherbaum (Hgg.): Albrecht Dürer

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Mit dem 3. Band ("Buchillustrationen") liegt die Neuausgabe der Druckgrafik Albrecht Dürers abgeschlossen vor: Ingesamt ein nach Gewicht, Umfang und Format monumentales Werk. Der Inhalt der drei Bände steht dem äußeren Anspruch nicht nach. Was heute über den Grafiker Dürer zu wissen ist - hier ist es nachzuschlagen.

Mit Ausnahme der "Apokalypse", des "Marienlebens", der "Großen" und der "Kleinen Passion", die im 2. Band behandelt sind, haben die weiteren Buchillustrationen - allesamt Holzschnitte - vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Herausgeber und Autoren standen also vor der im Falle Dürers erstaunlich anmutenden Aufgabe, ausgedehntes Neuland zu betreten.

Katalogisiert und abgebildet sind die nahezu 700 Dürer zugeschriebenen Holzschnitte in 17 nach ihrem Erscheinen chronologisch geordneten Büchern. Ein Anhang verzeichnet ausgeschiedene und zweifelhafte Werke. Dass auch die jetzigen Zuschreibungen an Dürer nicht immer auf festem stilkritischen Boden ruhen, wird von den Herausgebern eingestanden, die sich damit einer Revision ihrer vorgestellten Ergebnisse bewusst öffnen (7).

Eingeleitet wird der Katalog durch zwei Beiträge Matthias Mendes und Rainer Schochs über den Dürerzeitlichen Buchholzschnitt in Nürnberg sowie in Basel und Straßburg. Eindringlich führt Mende die "verschwommene" Forschungslage zur Nürnberger Illustrationskunst um 1500 vor Augen, und Schoch beklagt die "vielleicht unlösbaren Fragen" zu Dürers Anfängen am Oberrhein. Heinrich Wölfflin, von Schoch zitiert (28 f.), hat bereits 1926 den Weg gewiesen, wie der gordische Knoten womöglich zu zerschlagen sei: "Sobald man aber die moderne Auffassung von Originalarbeit fallen lässt und an die Vorstellung sich gewöhnt, dass an ein und demselben Stück verschiedene Personen der Werkstatt Anteil haben können, wird es verständlich erscheinen, dass die Frage nach dem Autor unter Umständen nicht zu beantworten ist".

Der an dieses forschungsgeschichtliche Vorspiel anschließende Katalog wurde von Berthold Hinz, Matthias Mende, Anna Scherbaum, Rainer Schoch, Peter Schreiber und Susanne Schröer-Trambowsky erarbeitet. Jedes der 17 Bücher wird "mit kurzen buchkundlichen Standardnotationen sowie einem knappen Text mit Angaben zum Inhalt, zur Bedeutung und zur Entstehung des Werkes und mit einer Zusammenfassung der einschlägigen kunsthistorischen Spezialliteratur" vorgestellt (7). Der Katalog wird mit dem Titelholzschnitt zur Ausgabe der Hieronymus-Briefe von 1492 eröffnet (Nr. 261). Der Druckstock mit der rückseitigen Signatur Dürers ist in der Kunstsammlung Basel erhalten - sozusagen der Grundstein, auf dem ein fragiles Gebäude von Zuschreibungen sich erhebt.

Was lassen die Herausgeber und Autoren weiterhin für Dürer gelten - wenn auch gelegentlich mit subtilen Fragezeichen versehen?

- 13 Illustrationen zu den Komödien des Terenz (um 1492/93; nicht als Buch erschienen. Die Druckstöcke sind im Kupferstichkabinett Basel erhalten).

- 45 Illustrationen zum "Ritter vom Turn" (1493).

- Christus am Kreuz (Kanontafel zu "Missale speciale", 1493).

- 18 Basler Gebetbuch-Holzschnitte (um 1493).

- 78 Illustrationen zu Sebastian Brants "Narrenschiff" (1494).

- 1 Illustration in "Trilogium anime" (1498).

- 2 Holzschnitte zu den Werken der Roswitha von Gandersheim (1501).

- 2 Holzschnitte zu Conrad Celtis "Amores" (1502).

- Titelumrahmung zu Plutarchs "De his qui tarde" (1513).

- 1 Holzschnitt im "Messbuch von Eichstätt" (1517).

- 5 Holzschnitte zum "Freydal" (um 1517/18).

- Titelholzschnitt zu "Reformation der Stadt Nürnberg" (1522).

- Holzschnitt zu Claudius Ptolemaeus, "Geographie" (1525).

Fasst das bisher skizzierte erste Drittel des Buches den Status quo der Dürer-Forschung zu den verstreut erschienenen Illustrationen zusammen, so gelten die folgenden 300 Seiten den von Dürer selbst verfassten drei wissenschaftlichen Werken. Sie sind in Text und Bild vollständig wiedergegeben. Die Wiedergaben der Texte sind reines Augenpulver. Sie zu lesen, das mag der Rezensent sich nicht antun. (Das muss er auch nicht, da es leicht zugängliche Nachdrucke gibt).

Aber die Kommentare! Für die "Unterweisung der Messung" (1525) haben die Herausgeber mit Peter Schreiber einen Mathematiker gewinnen können, der endlich einmal dieses vernachlässigte Werk Dürers den Kunsthistorikern erschließt - als "eine einzigartige Mischung aus elementaren Irrtümern und genialen, zum Teil der allgemeinen Entwicklung der Mathematik weit vorauseilenden Ideen" (168).

Schreiber erläutert (wie auch die beiden folgenden Bearbeiter) Dürers Buch Seite für Seite. Sein Schwergewicht liegt natürlich auf den Abbildungen und dort auf den mathematik-historischen Voraussetzungen, die dem Kunsthistoriker im Allgemeinen verschlossen sind. Es wird deutlich, dass Dürer mit mathematischer Literatur des Mittelalters vertraut war und dass er durchaus eigene geometrische Verfahren und Anwendungen entwickelte. Das Bild des "pictor doctus" wird eindringlich bestätigt. Über den "pictor" hingegen kann auch der neue Kommentar keine neuen Erkenntnisse bringen. Das ist kein Vorwurf gegen Schreiber, sondern liegt im Stoff der "Unterweisung" begründet.

Matthias Mende führt in das zweite der wissenschaftlichen Bücher Dürers ein, die Befestigungslehre von 1527, deren Entstehungsgeschichte als unerforscht gelten kann (282). Wie die "Unterweisung der Messung", so hat auch die "Befestigungslehre" wenig kunstgeschichtliche Aufmerksamkeit gefunden. Von militärhistorischer Seite wurde die Praktikabilität der Vorschläge Dürers bezweifelt, und Mende versteht das Buch "in Idealkonkurrenz zu italienischen Kunsttheoretikern des Quattrocento", vor allem Leone Battista Alberti, verfasst (285) - nicht ein "Nebenprodukt" seiner künstlerischen Tätigkeit oder eine Gelegenheitsarbeit angesichts der Türkengefahr, sondern "Leistungsnachweis" für den Rang des umfassend gebildeten Künstlers.

Die 1528 posthum erschienene "Proportionslehre" ist durch Berthold Hinz bearbeitet. Hinz beschreibt einleitend die wechselnden Verfahren Dürers auf der Suche nach Schönheit, Harmonie und Wahrheit bei der Wiedergabe der menschlichen Gestalt. Anders als im Fall der "Befestigungslehre" lässt sich Dürers gedanklicher Entwicklungsgang bis um 1500 zurückverfolgen. Ein frühes Beispiel seines Bemühens um die ideal-schöne menschliche Figur ist der Kupferstich mit "Adam und Eva" von 1504.

Seinen arithmetischen Proportionsschlüssel entwickelte Dürer gegen Ende des Jahrzehnts. Dürer misst Menschen - in der Höhe, in der Tiefe, in der Breite, Mann und Weib, einmal ein Kind - und erkennt den Fehler der normativen Vorgaben Vitruvs. Offensichtlich bediente er sich ganzer empirischer Messreihen, um unterschiedliche Konstitutionen zu beschreiben und abzubilden. Hinz schränkt allerdings ein. Er erkennt bei den Frauenkörpern "normative Eigenheiten" wie etwa den "überbordenden Bauch" (323). Mir hat ein Arzt den Bauch der Eva vom Genter Altar als Folge von Schwangerschaften ohne Nachsorge erklärt.

Es erscheint dem Rezensenten lohnend, die "Proportionslehre" gemeinsam mit Medizinern und Anthropologen durchzugehen. Auf die biologische Entwicklungsmechanik Thompsons (1917) hat Hinz bereits verwiesen. Aber wie steht es mit der Wirkung Dürers im Bereich der Anthropometrie, etwa der durch Elsholtz um 1650 entwickelten Messdiagnostik, sodann der Konstitutions- und Typenlehre und der erst im 18. Jahrhundert neu erwachten und bereits von Dürer entwickelten Erkenntnis des Unterschieds zwischen kindlicher Proportion und jener von Erwachsenen? Ein Oeuvrekatalog muss diese Fragen nicht beantworten. Ein Rezensent darf sie stellen.

Abgeschlossen wird der Katalog mit dem Verzeichnis von 21 ausgeschiedenen oder zweifelhaften Werken, von denen einige bis in jüngste Zeit als Werke Dürers galten. Die Argumente, teils biografischer, teils stilistischer Natur, überzeugen. Dem Werk Dürers tut der Verzicht auf diese zumeist derben Holzschnitte keinen Abbruch.

Gerd Unverfehrt