Hans-Christian Maner: Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens (= Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas; Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, 247 S., ISBN 978-3-8258-8032-3, EUR 29,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden zahlreiche Sammelwerke und Studien, in denen die Auflösung der Imperien im 20. Jahrhundert unter verschiedenen innen- und außenpolitischen Aspekten untersucht und meist sechs Groß- bzw. Vielvölkerreiche - das Russische Reich und die Sowjetunion, das Osmanische Reich, die Habsburgermonarchie sowie die Kolonialreiche Großbritannien und Frankreich - miteinander verglichen wurden. Hierbei geht es zumeist darum, das Versagen der Zentralen und die Wirkungsmächtigkeit der nationalen Bewegungen an der Peripherie aufzuzeigen. Im Gegensatz zu den anderen Imperien wurden in gewissem Rahmen der Habsburgermonarchie auch positive Konnotationen und ein Modellcharakter für eine supranationale Völkergemeinschaft zugeschrieben, so dass eine Analyse der von der Wiener Zentrale entwickelten Konzeptionen über den Umgang mit den Randgebieten, aber auch deren Wirkung und Realisierung als weiterführender methodischer Ansatz erscheint, durch den ein Perspektivenwechsel erreicht werden kann.
"Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie" - diese Charakterisierung der Habsburgermonarchie im Roman "Die Kapuzinergruft" des deutschjüdischen Schriftstellers Joseph Roth weist auf die Probleme des Vielvölkerreichs hin, welche die Auflösungsprozesse zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkten. Das Zitat ist gleichsam leitmotivisch für den anzuzeigenden Band zu sehen, der die aktuellen Impulse der Forschungen zu den Imperien und zu Grenzen/Grenzregionen aufgreift. Die Untersuchung von Grenzregionen als "Seismograph für den Gang der Innenpolitik von der Zentrale aus mit ihrem kolonialen und zivilisatorischen Impetus" (10) und auch für die von der Zentrale betriebene Außenpolitik bieten nicht nur einen Ansatz, das Funktionieren der Politik der Wiener Zentrale zu studieren, sondern auch einen bislang fehlenden Beitrag zu den Problemen von Grenzregionen in Europa überhaupt zu leisten.
Die insgesamt elf Beiträge behandeln nicht nur die "klassischen" Grenzregionen der Habsburgermonarchie - das Temeswarer Banat (Robert Born), die Bukowina (Kurt Scharr, Andrei Corbea-Hoişie), Galizien (Hans-Christian Maner, Oleh Turij), Schlesien (Dan Gawrecki), Lombardo-Venetien (Bernhard Schmitt), Bosnien und die Herzegowina (Markus Koller) sowie Dalmatien (Konrad Clewing), sondern auch Böhmen (Markus Krzoska) und die "innere Peripherie" Tirol (Hans Heiss), womit deutlich wird, dass abgesehen von den "Kernländern" Niederösterreich und Ungarn letztlich alle Kronländer als Grenzregionen angesehen werden können. Mit Ausnahme der Studie zum Temeswarer Banat zwischen 1716 und 1778, das in Wien als "Bollwerk und merkantilistisches Laboratorium" angesehen wurde, liegt der zeitliche Schwerpunkt der Abhandlungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurde der Umgang mit den Peripherien besonders stark diskutiert, und es wurden hegemoniale Bestrebungen des Zentrums deutlich, weil die nach nationaler und politischer Emanzipation strebenden Ethnien das Zentrum herausforderten.
In thematischer Hinsicht wird trotz vorgegebener Leitfragen die Vielzahl der unterschiedlichen Herausforderungen deutlich, denen sich die Wiener Reichsregierung stellen musste. Hierzu zählten nicht allein die Multiethnizität der besprochenen Regionen, sondern auch die jeweilige politische Situation in den Kronländern. Insofern ist der vorliegende Band auch ein Panorama wichtiger Politikfelder der Habsburgermonarchie: Die Beiträge thematisieren einerseits die mit den nationalen Bewegungen entstehenden Probleme und Zäsuren, so etwa das Jahr 1892 in Czernowitz, durch das die nationalen Gegensätze manifestiert wurden, das Problem der Ruthenen in Galizien oder die Badeni-Unruhen 1897 in Böhmen. Andererseits werden auch die Probleme, die sich aus der Modernisierung des Staatswesens ergaben, angedeutet: der Merkantilismus im 18. Jahrhundert (am Beispiel des Temeswarer Banats), die Durchsetzung des modernen Territorialstaates, die am Beispiel des Ansiedlungswesens in der Bukowina dargestellt wird, und das habsburgische Konskriptions- und Heeresergänzungswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das in Lombardo-Venetien eine besondere Ausprägung fand. Dass Peripherie im Falle der Habsburgermonarchie nicht unbedingt "Grenzregion" bedeuten musste, zeigt das Beispiel Tirol, das im 19. Jahrhundert zunehmend marginalisiert und bedeutungslos wurde. In der Gesamtschau machen die Beiträge deutlich, dass die Wiener Politik einen Kompromiss zwischen den divergierenden Interessen der Länder darstellte, was wiederum eine Schwächung der Zentralregierung mit sich brachte.
Die genannten Einzelstudien werden durch drei Beiträge von Hans-Christian Maner, Hans Lemberg und Jan Kusber in einen größeren methodisch-theoretischen Rahmen einbezogen. Zunächst geht es um das Verhältnis von Zentrum und Grenzregionen in der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert: Der Herausgeber weist darauf hin, dass Wien zwar die Metropole der Monarchie, nicht aber so dominant war, dass der Aufstieg von Zentren auf Landesebene, die einer eigenen Dynamik unterlagen, hätte verhindert werden können. Die Zentrumsfunktion Wiens für die gesamte Monarchie nahm ab, als es zum Zentrum der deutschen Bevölkerung geworden war. Hans Lemberg ordnet diese Beobachtungen daran anschließend in den Kontext der Imperien in Europa im 18. und 19. Jahrhundert und der aktuellen Forschungen zu "Grenzen" und "Grenzregionen" ein und eröffnet weitere Forschungsperspektiven, indem er beispielsweise auf das Bild bzw. das Problem der Rezeption dieser Grenzregionen innerhalb des Reiches hinweist. Jan Kusber bezieht in seinem zusammenfassenden Beitrag die Fallstudien auf den allgemeinen begrifflichen Rahmen und den Forschungskontext und weist explizit auf die doppelt vergleichende, "forschungsstrategisch sinnvolle" (235) Perspektive des Bandes hin, die nicht nur einen Vergleich innerhalb der Habsburgermonarchie ermöglicht, sondern auch einen Blick auf die anderen Großreiche eröffnet.
Der vorliegende Band stellt eine wichtige Bestandsaufnahme der bisher geleisteten Forschungen zur Peripherie der Habsburgermonarchie und ein Panorama der spezifischen Probleme dar, so dass er zu weiteren vertiefenden Forschungen anregen wird. Die Beiträge zeigen auch, dass das für Kolonialreiche entwickelte Zentrum-Peripherie-Modell für die Habsburgermonarchie zwar als Forschungsansatz anregend sein kann, dass es aber andererseits nur bedingt anwendbar ist, da die verschiedenen Kronländer durch eine Multiethnizität und -kulturalität auf spezifische Weise in sich differenziert waren und sich dort durch die unterschiedlichen nationalen Bewegungen eine besondere Eigendynamik entfaltete.
Heidi Hein-Kircher