Rezension über:

Theodore Ziolkowski: Vorboten der Moderne. Eine Kulturgeschichte der Frühromantik, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, 282 S., ISBN 978-3-608-94460-0, EUR 22,50
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Rezension von:
Dirk von Petersdorff
Fachrichtung Germanistik, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dirk von Petersdorff: Rezension von: Theodore Ziolkowski: Vorboten der Moderne. Eine Kulturgeschichte der Frühromantik, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/11154.html


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Theodore Ziolkowski: Vorboten der Moderne

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Im Vorwort berichtet Theodore Ziolkowski, Professor Emeritus für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University, wie er zu diesem Buch angeregt wurde: Während eines Arbeitsaufenthaltes im Gästehaus der Berliner Humboldt-Universität in der Ziegelstraße fiel ihm auf, dass Dorothea Veit rund 200 Jahre vor ihm ebenfalls in dieser Straße wohnte. Dort empfing sie fast täglich ihren Geliebten, Friedrich Schlegel, der einen zentralen Text der Frühromantik, den Roman "Lucinde", in ihrer Wohnung schrieb. Mit einigen präzisen Sätzen entwirft Ziolkowski eine erste Karte der Berliner Frühromantik, rekonstruiert, wo Friedrich Schlegel und sein Freund Friedrich Schleiermacher in einer Wohngemeinschaft lebten und welche Wege sie durch Berlin gingen. Ebenfalls noch im Vorwort benennt er den Anspruch seines Buches: "Ich wollte die Geschichte dieser Menschen - sozusagen meiner 'geistigen Nachbarn' von vor zwei Jahrhunderten - erzählen und ihre häufig diskutierten Werke nicht so sehr neu interpretieren als vielmehr im Kontext ihres gemeinsamen Lebens lesen und dadurch auf sonst kaum beachtete Zusammenhänge hinweisen" (10).

Dem entspricht der Aufbau des Buches. Es besteht aus zwei Hauptteilen, schildert das Leben der frühromantischen Gruppe in Berlin (1797/98) und erzählt von der gemeinsamen Zeit dieser - nun leicht veränderten und ergänzten - Gruppierung in Jena (1799/1800). In einem Zwischenstück wird von einem Treffen in Dresden und einer gemeinsamen Besichtung der Gemäldegalerie erzählt. Abgerundet wird das Buch durch Ausführungen und Überlegungen zur Wirkungsgeschichte der frühromantischen Generation bis in die Gegenwart, durch einen Anhang, in dem romantische Texte vorgestellt werden, die sich mit dem Jahrhundertwechsel beschäftigen, sowie durch eine sehr nützliche und detaillierte Zeittafel.

Ziolkowski ist, und das hat die Kritik an seinem verwandten Buch "Das Wunderjahr in Jena (1794/95)" einhellig festgestellt, ein hervorragender Erzähler. Er strukturiert seine Bücher durchaus ästhetisch. Er erzeugt Spannung, setzt wirkungsvoll Akzente, überschreibt ein Kapitel mit "Liebe", beschreibt seine Protagonisten auch körperlich, kostet komische Episoden aus. Aber im Gegensatz zu Autoren wie Carola Stern, Sigrid Damm oder Klaas Huizing, die erzählende Sachbücher mit ähnlicher Thematik schreiben, hält Ziolkowski Distanz zu seinen Akteuren, betreibt keine Einfühlung, vermeidet Subjektivierungen und ist auch zu kritischen Urteilen bereit; so etwa, wenn er bemerkt, dass die berühmte Episode, in der sich die Romantiker Schillers 'Glocke' vorlesen und dabei vor Lachen von den Stühlen fallen wollen, von verkrampfter Heiterkeit bestimmt sei.

Die Wissenschaft wird nicht der Erzählung geopfert, sondern mit ihr verbunden. Wir bekommen die Wohngemeinschaft Friedrich Schlegels und Schleiermachers vor Augen gestellt, erfahren, wer zu welcher Zeit aufsteht, wie man frühstückt, worüber geklatscht wird; wir erleben Schleiermachers 29. Geburtstag, an dem ihn die Freunde mit Schokolade überraschen und erklären, dass er nun endlich ein Buch veröffentlichen müsse; wir erfahren, dass Fichte nach der Premiere von Schillers "Wallensteins Lager" Caroline Schlegel vier Gläser Champagner aufnötigt; wir hören von finanziellen Sorgen, von Mahlzeiten im Hof des Jenaer Hauses, von den erotischen Verwicklungen, mit denen die Frühromantiker Skandal machten. Aber Ziolkowski unternimmt auch gründliche Analysen zentraler literarischer und theoretischer Texte, die in diesem Zeitraum entstanden sind, erörtert Struktur und Intention von Schlegels "Lucinde", Schleiermachers "Reden über die Religion" und Friedrich von Hardenbergs Rede "Die Christenheit oder Europa". Wertvoll ist, dass auch seltener behandelte Texte wie das kunsttheoretisch eminent wichtige Gespräch "Die Gemälde" oder Tiecks dramentechnisch interessante "Genoveva" behandelt werden.

Die im Vorwort formulierte Intention, die romantische Literatur durch die Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Zusammenhänge neu zu lesen, wird an einigen Stellen eingelöst. Die parallele Entstehung der "Lucinde und der "Reden über die Religion" schlage sich im Prometheus-Motiv nieder, das beide Texte verwenden. Mit dieser Gestalt würden "symbolisch Aspekte der gegenwärtigen aufgeklärten, protoindustriellen Gesellschaft" dargestellt (85). Diese Spur aber wird dann nicht weiter verfolgt, die Frage, welche Aspekte der Zeit um 1800 damit symbolisch benannt werden, bleibt - bis auf einen Hinweis auf die zeitgenössische Unruhe - unbeantwortet. An solchen Stellen bietet Ziolkowskis Buch Anschlussmöglichkeiten, und hier wäre der Brückenschlag zur Romantikforschung in der Literaturwissenschaft und zur historischen Kulturwissenschaft möglich. So ist in der jüngeren Forschung die romantische Theoriebildung als Ergebnis der Auseinandersetzung mit Modernisierungserfahrungen verstanden worden, und in ein solches Moderne-Tableau, das gesellschaftliche, wissens- und ideengeschichtliche Faktoren integriert, ließe sich die Prometheus-Figur hervorragend integrieren.

Weitere solcher Anschluss-Stellen für die Forschung lassen sich nennen: Wenn Ziolkowski den Begriff des "Mittlers" (86) bei Schlegel und Schleiermacher findet, dann ließe sich daran das spezifisch romantische Konzept von Religion erläutern, das sich aus der Rezeption der Transzendentalphilosophie ergibt und sich als Antwort auf die Integrationsprobleme moderner Gesellschaften versteht. Wenn Ziolkowski die Liebesverhältnisse der Romantiker schildert, dann ließen sich Forschungen zum Wandel der Liebessemantik im späten 18. Jahrhundert anschließen; ebenso Überlegungen zu den moralischen Codes dieser Zeit, die von den Frauen der Romantik negiert oder neu definiert wurden. Sowohl Dorothea Veit als auch Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling sind zudem Gegenstände der Gender-Forschung, und Ziolkowski bietet hier reichhaltiges Material, das in den größeren Zusammenhang sich verschiebender Geschlechterverhältnisse integriert werden müsste. Sehr interessant etwa, wenn in der "Lucinde" ein temporärer Rollentausch von Mann und Frau projiziert wird! Die Zusammenarbeit der Romantiker, ihr elitäres Bewusstsein und ihre Interaktionsformen ließen sich schließlich mit dem soziologischen Begriff der 'Gruppe' oder der neueren Kategorie des 'Netzwerkes' präziser fassen und genauer benennen. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um eine solche Gruppe zu bilden, welche Distinktionsmerkmale verwendet sie, welche rhetorischen Strategien und Wissensbestände setzt sie ein, um eine bestimmte Form der Selbstdeutung zu errichten und zu stabilisieren?

Diese Fragen sind nicht als Kritik an Ziolkowski zu verstehen, der die neuere Forschung nur wenig berücksichtigt, denn als Anregung für kommende kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten. Ziolkowskis Werke stellen eine immense Bereicherung dar. Die dominante literaturwissenschaftliche Forschung der letzten zwanzig Jahre hat die Bedeutung von Autoren wie Novalis und Friedrich Schlegel für die denkgeschichtlichen Umbrüche des späten 18. Jahrhunderts oder die Impulsfunktion der Frühromantik für die gesamte literarische Moderne dargestellt; aber sie entwirklichte dabei die Romantik, indem sie ihr den historischen und lebensgeschichtlichen Boden entzog. Der kulturwissenschaftliche Gegenschwung ist notwendig und fruchtbar, darf aber die Ergebnisse dieser Arbeiten - genannt sei exemplarisch der Name von Manfred Frank - nicht einfach ignorieren; notwendig ist eine Synthese.

Am Beispiel von Friedrich Schlegels "Lucinde" lässt sich das skizzieren. Dieser Text ist zuletzt als Prototyp des modernen Romans gelesen worden, seine Struktur ist mit den Begriffen des 'Fragments', der 'Allegorie', der 'Arabeske' erläutert worden. Mit Ziolkowski erkennt man nun wieder, dass dieser Roman aus einer Lebensgeschichte hervorgegangen ist: Man kann ihn als Versuch deuten, das eigene Liebesleben zu romantisieren, und das heißt, die Lebenspraxis symbolisch auf Ideen zu beziehen, die in ihr realisiert werden. Damit liegt eine ästhetische Generierung von Sinn vor, und dies geschieht besonders konzentriert und produktiv in einer Zeit, in der traditionelle Sinnressourcen fragwürdig geworden sind. Der neue, moderne Lebenssinn aber bleibt, weil ihm der übersubjektive Halt fehlt, fragmentarisch und vorläufig, ist nur begrenzt zu explizieren. In solcher Weise ließe sich die kulturwissenschaftliche Wende der Literaturwissenschaft, zu der Ziolkowski die schönsten Stücke geliefert hat, mit anderen Forschungsrichtungen zusammenführen und produktiv machen.

Dirk von Petersdorff