Rezension über:

Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849-1914) (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 70), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 446 S., ISBN 978-3-412-08706-7, EUR 54,90
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Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849-1914), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/11243.html


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Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe

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Das Thema "Migration" beschäftigt nicht nur die tagespolitischen Diskussionen. Auch in der Geschichtswissenschaft sind die großen Wanderungsströme des 19. und 20. Jahrhunderts in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand von Überblicksdarstellungen und Fallstudien geworden. Bettina Hitzers Bielefelder Dissertation reiht sich in diese Untersuchungen ein. Ihr Thema ist die Migration vor allem junger Menschen in die aufstrebende Großstadt Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in eine Stadt, die zwischen 1801 und 1905 von 173.000 auf über zwei Millionen Einwohner wuchs. Hitzer lässt die Leser ihrer Studie an den ersten Schritten der Zugezogenen teilnehmen. Sie tut es auf eine für wissenschaftliche Arbeiten überraschende und angenehme Weise. Sie folgt den Wegen der Migrantinnen und Migranten von der Ankunft an den Berliner Bahnhöfen über die Suche nach einer Herberge und Heimat in der Stadt bis zu den Bemühungen der evangelischen Kirche um Missionierung und kirchliche Organisation der Neubürger auf der einen und um Rückgewinnung der auf Irr- und Abwege Geratenen auf der anderen Seite. Alle Überlegungen werden durchzogen von der kulturwissenschaftlichen Fragestellung, was denn nun das "Eigene" und das "Fremde" ausmache.

Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts mit sternförmig angeordneten Kopfbahnhöfen und einer diese verbindenden Ringbahn ausgestattet, war Symbol für die Ablösung der agrarischen Kultur durch industrielle Urbanität. Bis zum Ersten Weltkrieg verbanden sich mit der Großstadt Faszination und Angst zugleich. Weil das Leben in der Großstadt als entwurzelnd und den Glauben gefährdend galt, suchte man nach Mechanismen, die jungen Leute zu schützen und aufzufangen. Die Bahnhofsmission, die zunächst nur zeitweise an einzelnen Berliner Bahnhöfen arbeitete, war mit ihren ehrenamtlichen Mitgliedern ein Abbild des Bürgertums mit guten Beziehungen zu den höheren Gesellschaftsschichten. Wie bei den meisten helfenden Tätigkeiten setzte auch hier mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine Professionalisierung ein. Hitzer arbeitet überzeugend heraus, wie sich die Hilfstätigkeit der Bahnhofsmissionarinnen vollzog und sich dabei die Perspektiven der Helferinnen und der Neuankömmlinge unterschieden. Der Aufbau einer Fürsorge für die männlichen Neubürger Berlins gelang jedoch nur unzureichend.

Das Anliegen der Inneren Mission für die Migranten nach Berlin charakterisiert Bettina Hitzer als "Heimat geben". Dem Vorbild der Gesellenheime Kolpings folgend, gründete Clemens Theodor Perthes seit den 1850er-Jahren die "Herbergen zur Heimat", die kurz vor dem Ersten Weltkrieg jährlich über 40.000 Männer beherbergten. Für die Frauen entstanden ebenfalls Herbergen, wie der von Diakonissen geleitete Marthashof oder eine Reihe von Marienheimen. Ihr Erfolg litt unter dem strengen Reglement, dem sich die Bewohnerinnen zu unterwerfen hatten, weshalb gerade die Fabrikarbeiterinnen private Schlafstellen vorzogen.

Mit dem oft vergeblichen Bemühen, den jugendlichen Zuwanderern eine Struktur nicht nur der Arbeit, sondern auch der Freizeit anzubieten, ging eine fortschreitende Entkirchlichung einher. Sie betraf die evangelische Kirche viel mehr als die katholische, wenn auch zwischen 1880 und 1900 eine kurzzeitige Revitalisierung der protestantischen Kirchlichkeit zu verzeichnen war. Die Bemühungen um ein attraktives protestantisches Vereinswesen bekamen erst durch die Gründung des Christlichen Vereins junger Männer (CVJM) eine größere Reichweite. Die von Adolf Stoecker gegründete Berliner Stadtmission konnte Impulse aus Großbritannien und Erfahrungen der Sozialdemokratie aufgreifen und wurde zur "Keimzelle eines im späten Kaiserreich neu entstehenden protestantischen Milieus" (311). Das missionarische Konzept blieb prägend, wenn auch in der Reichweite beschränkt, sodass die evangelischen Jugendvereine in ihrer Mitgliederzahl deutlich hinter den katholischen zurück blieben.

So blieb eine gewisse Fremdheit zwischen der bürgerlichen evangelischen Kirche und den Zuwanderern in die Großstadt bestehen. Irrwege und Abwege wurden konstatiert und ihre Verhinderung als Aufgabe wahrgenommen. Für Männer bestand in dieser konfessionellen Perspektive die Gefahr in "Arbeitsscheu", aus der Obdachlosigkeit und Kriminalität resultierten. Für Frauen war die Bewahrung der sexuellen Integrität entscheidend; Prostitution galt als ständige Möglichkeit des sittlichen Fallens. In Arbeitskolonien oder Magdalenenstiften wurden die Betroffenen zeitlich entmündigt und einer strengen Erziehung unterworfen. "Erfolge" stellten sich aber nur bedingt ein. Deshalb lag nicht nur eine zunehmende Medizinalisierung und Psychiatrisierung dieser Anstalten nahe, sondern auch eine Annäherung an die staatliche Fürsorgeerziehung, was die finanzielle Basis erweiterte.

Bettina Hitzer betitelte ihre Studie mit dem Bild vom "Netz der Liebe". Die Ambivalenz dieses Bildes als Sicherheitsnetz oder als Falle zieht sich durch die Arbeit hindurch. Sie illustriert diese Doppeldeutigkeit am Antiurbanismus, am Diskurs über die Heimat, an der Bindung an die Institution Kirche besonders vonseiten der Jugend und am Kampf gegen Kriminalität und Sittenlosigkeit. Weitergehende Reformimpulse kamen immer von außen. Sie führten zu einer allmählichen Öffnung für den Freiheitsdrang der Jugendlichen und einer Gewöhnung an die Urbanisierung der Lebensverhältnisse. Doch blieben dabei zumindest vom moralischen Anspruch her ganze Gruppen auf der Strecke, etwa die so genannten "Schwererziehbaren". In der Praxis konnten sie jedoch immer auf die christliche Barmherzigkeit zählen. Das führt zum Schlussfazit der Autorin, die zu ähnlichen Ergebnissen kommt, wie sie bereits vielfach für den Katholizismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts konstatiert wurden: "In ihrem Bemühen, die religiösen Bindungen einer in Bewegung geratenen Gesellschaft zu erhalten, veränderte sich die Innere Mission nicht nur selbst, sondern trug zu einer wenn auch ambivalenten und spannungsreichen Modernisierung der Gesellschaft bei." (413). In gewissem Sinn ist damit die Haltung jeder religiösen Gemeinschaft gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen charakterisiert: die Ambivalenz von Beharrung auf überkommenen Wertvorstellungen und der behutsamen Öffnung für neue Lebensformen.

Joachim Schmiedl