Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism. The "Jewish Question" in Poland, 1850-1914, DeKalb, IL: Northern Illinois University Press 2006, x + 242 S., ISBN 978-0-87580-352-4, USD 40,00
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Zu den zentralen Defiziten der historischen Antisemitismusforschung gehört einerseits eine spezifische Verengung der Perspektive, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Entstehung des Antisemitismus als einer neuen, immer stärker rassistisch argumentierenden politischen Bewegung mit teleologischem Blick auf eine Vorgeschichte des Holocaust reduziert wird. Komplementär dazu ist ein weiteres Manko der aktuellen Antisemitismusforschung in einer Überdehnung zu sehen. So wird die neue Judenfeindschaft als ein mit innerer Notwendigkeit aufkommendes, der Logik der gesellschaftlichen Entwicklung der so genannten Moderne entsprechendes, universelles Phänomen dargestellt. Zur Klärung beider Fragen sind genauere Kenntnisse über die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus in einer breiten Anzahl europäischer Länder nötig. Daher ist es überaus begrüßenswert, dass Theodore R. Weeks mit seiner Studie 'Von der Assimilation zum Antisemitismus' eine solche Untersuchung für Polen vorgelegt hat.
Weeks konzentriert sich in seiner Darstellung auf die öffentlichen Debatten und die publizistischen Auseinandersetzungen über die Stellung der Juden in der Gesellschaft sowie über die Beziehungen von Juden und Nichtjuden (beziehungsweise in Weeks' nahezu durchgängig gewählter, nicht unproblematischer Formulierung: Polen), wobei er sowohl die Entwicklung der öffentlichen Meinung in Polen als auch den innerjüdischen Diskurs verfolgt. Mit guten Gründen beschränkt Weeks sich dabei auf Kongresspolen, also die unter russischer Herrschaft stehenden Teile des polnischen Sprach- und Kulturraumes.
Zunächst skizziert er den historischen Hintergrund, die Entwicklung der zumeist wirtschaftlichen Beziehungen von Juden und Nichtjuden in Polen sowie die innerjüdischen Entwicklungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Seit Mitte der 1850er-Jahre blies auch in Kongresspolen, so die Überschrift des zweiten Kapitels, der "Wind der Veränderung". Angesichts des gemeinsamen russischen Feindes war diese Phase von ausgesprochen guten Beziehungen von Juden und Nichtjuden geprägt. Den Höhepunkt dieser polnisch-jüdischen Verbrüderung bildete der Aufstand von 1863. Die Niederlage und die verstärkte Russifizierung Kongresspolens durch die zaristische Okkupationsmacht führten auf polnischer Seite unter dem Schlagwort Positivismus zu einer neuen politischen Orientierung, die - so ließe sich Weeks' Darstellung aus deutscher Perspektive ergänzen - dem von Liberalen in Deutschland nach 1848 entwickelten Begriff der Realpolitik nicht unähnlich war. Während jüdische Intellektuelle um die 1866 gegründete polnisch-jüdische Zeitschrift Izraelita die Vision einer neuen multireligiösen polnischen Nation entwarfen, begannen nichtjüdische polnische Schriftsteller - Weeks hebt hier vor allem Jan Jeleński hervor - die in Europa aufgekommene Sprache des Antisemitismus aufzugreifen. Zwar konnte sich der Antisemitismus in Kongresspolen aufgrund der russischen Okkupationsherrschaft nicht als politische Bewegung artikulieren, dennoch begannen mit den 1881 in Russland ausgebrochenen Pogromen auch für die polnischen Juden "traumatische Jahre". Zunächst schienen die polnischen Provinzen des Zarenreiches zwar von antisemitischer Gewalt verschont zu bleiben, doch während der Weihnachtsfeiertage des Jahres 1881 kam es auch in Warschau zu gewalttätigen Übergriffen auf Juden. Das "Weihnachts-Pogrom" bildete nach Weeks einen Wendepunkt in den "polnisch-jüdischen Beziehungen", und es war der entscheidende Auslöser zur Entstehung des polnischen Antisemitismus, der vor allem in der Gründung der ersten antisemitischen Zeitschrift Rola durch den bereits genannten Jeleński zum Ausdruck kam. Der Antisemitismus der Rola war zwar, wie Weeks schreibt, vorwiegend traditionell und religiös bestimmt, er formte aber aus den überlieferten judenfeindlichen Vorurteilen eine allumfassende antisemitische Weltanschauung. Jeleński erreichte in den 80er- und 90er-Jahren mit seinem Judenhass, wie Weeks überzeugend zeigen kann, zwar nur eine Minderheit der polnischen Bevölkerung, aber er stand keinesfalls allein da. Die Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden stiegen jedoch seit Mitte der 80er-Jahre an, sodass antisemitisches Denken in der polnischen Bevölkerung immer mehr Anklang fand.
Eine weitere Verschärfung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden setzte ein, als die Arbeiterdemonstrationen zum 1. Mai 1892 und Streiks in der Industriestadt Łódź in antisemitische Gewalt umschlugen.
Die Jahre um 1900 waren von einer Gleichzeitigkeit von "Fortschritt und Reaktion" gekennzeichnet. Diese Zeit war insbesondere durch die, zunächst im Untergrund vorbereitete Entstehung neuer politischer Parteien geprägt, auf der einen Seite die nationaldemokratische Partei, Endecja, die sich zur Frage der Stellung der Juden in der Gesellschaft zwar zunächst nicht äußerte, schon bald aber die ersten Spuren ihres späteren Antisemitismus deutlich werden ließ, auf der anderen Seite die sozialistischen Arbeiterparteien, der von ausschließlich jüdischen Arbeitern gebildete Bund sowie die Polska Partia Socjalistyczna, die ihrerseits eine eigene jüdische Sektion hatte. Darüber hinaus bildete sich auch in Polen eine zionistische Bewegung.
Zum entscheidenden Einbruch des Antisemitismus in die polnische Gesellschaft kam es mit dem Ausbruch der russischen Revolution von 1905. So nahm der Antisemitismus in den Wahlkämpfen zur Volksvertretung, der Duma einen immer stärkeren Raum ein, und auch die nationaldemokratische Partei griff nun die judenfeindliche Propaganda auf.
In den Jahren nach 1907 wurde, nach Weeks, die Möglichkeit einer harmonischen Beziehung von Juden und Nichtjuden von der überwältigenden Mehrheit der polnischen Gesellschaft abgelehnt. Das Projekt der Assimilation fand mit Ausnahme der Gruppe um die Zeitschrift Izraelita keine Unterstützung mehr, und selbst liberale polnische Intellektuelle, die sich einst für die Integration der Juden eingesetzt hatten, griffen die Sprache des Antisemitismus auf und verstanden sich fortan, so ihr paradox anmutendes Selbstverständnis, als "progressive Antisemiten".
Wie hilfreich und inspirierend Weeks Studie gerade auch für die eingangs aufgeführten Defizite der Antisemitismusforschung ist, zeigt sich vor allem in seinem Schlusskapitel, in dem er die Ergebnisse seiner Studie im europäischen Kontext diskutiert. In Polen waren zwar die lebensweltlichen Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden noch um 1900 sehr viel stärker als im westlichen Europa, doch auch hier richtete sich der Antisemitismus vor allem gegen die assimilierten Juden. Die Besonderheit des polnischen Antisemitismus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sieht Weeks darin, dass er weder zu antijüdischen Gewalt aufrief, noch sich der Sprache des Rassismus bediente.
Aufgrund der spezifischen Situation Polens unter russischer Verwaltung sowie angesichts der explosiven Lage während der Russischen Revolution von 1905 - für Weeks das zentrale Ereignis in der Geschichte der Beziehungen von Juden und "Polen" - war die polnische Bevölkerung "überempfindlich gegenüber jedweder realer oder auch nur empfundener Bedrohung ihres kulturellen Erbes und ihrer überlieferten Identität" (177).
Weeks hat mit seiner überaus anregenden, darüber hinaus gründlich aus den Quellen gearbeiteten und prägnant geschriebenen Darstellung der Entwicklung des Antisemitismus in Kongresspolen einen für die eingangs genannte Defizite der Antisemitismusforschung ungemein anregenden und fruchtbaren Beitrag geliefert. So zeigt er die besondere Form, die der Antisemitismus in Kongresspolen annahm, und die spezifische Konstellation, die seiner Entstehung zugrunde lag.
Wie alle grundlegenden Arbeiten wirft auch Weeks Studie jedoch neue und weitere Fragen auf. Auch wenn er die europäischen Bezüge der antisemitischen Semantik keineswegs ausblendet, so bleiben die transnationalen Beziehungen und die kulturellen Austauschprozesse zwischen polnischen und europäischen Antisemiten unterbelichtet, und auch die Frage, ob polnische Antisemiten sich eher auf französische, deutsche oder österreichische Stichwortgeber bezogen, bleibt offen.
Ein weiterer Schwachpunkt liegt in der eher beiläufigen Thematisierung der katholischen Kirche. Während die knappen Hinweise von Weeks einen von antisemitischen Befindlichkeiten weniger berührten Klerus in Polen nahe legen, hat die neuere Antisemitismusforschung für andere Ländern die zentrale Rolle der Kirche bei der Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus herausgearbeitet. Daher wäre eine genauere Untersuchung der Haltung des polnischen Klerus für die Ausbreitung oder gegebenenfalls Zurückweisung der antisemitischen Rhetorik in einem so eminent katholischen Land wie Polen umso aufschlussreicher.
Wie schon der programmatische Titel der Studie deutlich macht, kommt dem Begriff Assimilation bei Weeks zentrale Bedeutung zu. Angesichts dessen wäre es sinnvoll gewesen, die von David N. Myers angeregte Debatte über eine Neubewertung dieses zumeist negativ belegten Terminus aufzugreifen.
Diese Überlegungen können aber den Wert und die Qualität dieser vorbildlichen Arbeit in keiner Weise schmälern, die als ein wesentlicher Baustein für eine europäische Geschichte des Antisemitismus dienen kann.
Ulrich Wyrwa