Rezension über:

Niall Ferguson: Krieg der Welt. Was ging schief im 20. Jahrhundert? Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt und Klaus Binder, Berlin / München: Propyläen 2006, 987 S., ISBN 978-3-549-07214-1, EUR 29,90
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Rezension von:
Jost Dülffer
Historisches Seminar, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Jost Dülffer: Rezension von: Niall Ferguson: Krieg der Welt. Was ging schief im 20. Jahrhundert? Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt und Klaus Binder, Berlin / München: Propyläen 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/12156.html


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Niall Ferguson: Krieg der Welt

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Niall Ferguson ist ein Historiker mit Massenauflage. Da der Rezensent über den gleichen Beruf verfügt, scheint in einer solchen Aussage nur zu leicht Neid mitzuschwingen. Das ist nicht der Fall, vielmehr ist es wichtiger, die anderen Produktionsbedingungen in den USA und Großbritannien zu benennen: Autoren mit guter wissenschaftlicher Vorbildung legen in kurzen Abständen dicke Wälzer vor, die - so hier auch bei Ferguson - zugleich mit einer Fernsehserie vermarktet werden. Sie erreichen höchste Auflagen, denn sie können lesbar schreiben und stützen sich auf ein Team von Rechercheuren, welche den Produktionsausstoß erklären. Multimediale Verwertung verlangt einen anderen Schreibstil - und ein anderes Publikum, als es zumeist im deutschsprachigen Bereich zu finden ist. Der deutsche Verkaufserfolg ist noch offen. [1]

Ferguson, Jahrgang 1964, der derzeit in Harvard lehrt und zugleich Senior Fellow in Oxford ist, begann 1995 mit einem Buch über die Hamburger Wirtschaft in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. 1998 folgte eine Geschichte des Hauses Rothschild, 1999 eine britisch zentrierte Geschichte des Ersten Weltkriegs, 2001 eine Geschichte von Geld und Macht seit 1700, 2003 eine Gesamtgeschichte des britischen Empire, dann entdeckte er auch das amerikanische Empire (2004) - nun ist die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts dran. Keine Angst, die im Untertitel gestellte Frage, was schief ging, bekommt nur der deutsche Leser vorgelegt, in der englischen Ausgabe heißt der Untertitel kulturkritischer: "Descent of the West".

Auch wenn alle genannten Titel des Autors dicke Wälzer von mehreren hundert Seiten darstellten, schlägt dies Buch alle Vorgänger quantitativ. Die Produktionsweise prägt auch den Stil: viele Stories, viele Anekdoten, viele Memoiren, auch viele schriftstellerische Zeugnisse stehen für die reale Geschichte - Hauptsache, die Anekdote oder der Bericht ist anschaulich. J.R.R. Tolkiens "Herr der Ringe" wird nicht nur eine Kapitelüberschrift verdankt, sondern auch eine neunseitige Darstellung zur britischen Befindlichkeit in beiden Weltkriegen. Das zielt auf Aha-Effekte und zum Teil provokante Zusammenhänge, von denen der Fachhistoriker oft den Eindruck hat, sie gingen in die richtige Richtung. Daneben steht ein breiter Strauß oft entlegener Fachliteratur, die allerdings gerade deutsche geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse vielfach aus englischen Überblicksdarstellungen übernimmt. Auch Archivquellen fehlen nicht, die allerdings manchmal recht beliebig eingesetzt werden.

Die Darstellung setzt ein mit einem Überblick über das am 11. September 1901 (hundert Jahre vor ...) noch ziemlich heile Europa. Sie benennt Reiche und deren Zerfall, Bevölkerungsmischungen und das Streben nach ethnisch definierter Nationalität und setzt dagegen Diasporas und rassenideologische Ideologeme und Politik. Das bildet einen breiten Bogen. Ihm wird für Europa wie Asien mit dem Bild der tektonischen Verschiebungen von Nationalitätenmischungen eine mechanische Qualität gleichsam notwendiger Entwicklungen unterlegt. Zum Schluss holt Ferguson noch einmal weiter aus und landet bei Sigmund Freuds Eros und Thanatos als gleichsam anthropologischen Erklärungen für die Gewaltsamkeiten. Da gibt es auch in heutiger Soziologie oder anderen systematischen Wissenschaften doch wohl andere und weiter führende Ansätze. Das Buch klingt mit Edward Gibbon, Oswald Spengler und H.G. Wells (der mit seinen Visionen auch am Anfang stand) aus. Auch ein eher quantitativer Anhang bleibt bei Aporien der Erklärung stehen: nicht warum es so viele Opfer mörderischer Gewalt gab, sondern warum sie in einer Region und nicht (auch) in anderen stattfanden, warum in hoch technisiertem Kontext und in vormodernen Zusammenhängen, lauten die Fragen.

Chronologisch setzt der Autor mit dem russisch-japanischen Krieg 1904/05 ein und endet recht überraschend bereits am Ende des Korea-Krieges 1953 - da bleibt ein weiteres halbes Jahrhundert im Schnelldurchgang. Dies hatte Eric Hobsbawm nur noch zur Hälfte als "goldenes Zeitalter" bezeichnet; Ferguson streift hier im Nachsatz und in Kurzform tödliche und gefährliche Konflikte wie Kuba, Kriege in Afrika, Ruanda, Jugoslawien. Mao Zedongs "großer Sprung" mit hier benannten 30 Millionen Toten wird gar nur als bloßes Faktum ohne Vertiefung erwähnt (786). Da scheinen die Proportionen der Gewaltgeschichte chronologisch und wohl auch regional wenig geglückt zu sein. Wie schon Benjamin Ziemann in seinem Verriss des Buches (Die Zeit Nr. 42, 12.10.2006) andeutete, könnte die Entstehung außereuropäischer Kriege und Massentötungen von Deutsch-Südwestafrika 1904/05 an und damit lange vor unserer Gegenwart in Afrika, im Nahen Osten und in Asien zu einem ganz anderen Blick auf die Gewaltstrukturen angesichts der Ausbreitung westlicher Zivilisation führen. Erst wenn Ferguson im Schluss beklagt "Europa hat aufgehört sich zu reproduzieren" (791) und den chinesischen (nicht aber indischen) Aufschwung für die Welt an die Wand malt, ist er wieder bei dieser weltweiten Sichtweise angelangt, welche den englischen Titel bestimmt.

Im Kern der Erzählung stehen der Erste und Zweite Weltkrieg sowie die Zeit dazwischen. Die Kriege und ihre zum Teil ununterscheidbare Überschneidung mit Bürgerkriegen werden ausführlich dargelegt. Ferguson unternimmt es insgesamt in einem geglückten Spagat die Verantwortlichkeiten für diese Kriege im Einklang mit der bisherigen Forschung darzulegen. Darüber hinaus vermag er die vielfältigen zusätzlichen weiteren und sich überlappenden sozialen und rassischen Konflikte oft regionaler Art zu entfalten. Simon Sebag Montefiore (ein Stalin-Forscher) fand in der New York Times bei hohem Lob bemerkenswert die Darlegung russisch-sowjetischer Verbrechen (12.11.2006). Von daher kann Ferguson nur sehr begrenzt Verständnis für die Kooperation der USA und Großbritanniens mit dem sowjetischen Diktator im Zweiten Weltkrieg aufbringen, zumal sie oft von verbaler Verniedlichung nicht nur bei "fellow travellers" begleitet waren. Aber auch die diversen Antisemitismen im östlichen Mitteleuropa, die weiteren ethnischen Konflikte, mit denen sich die Großmächte- und Reiche-Konflikte aufluden, werden kenntnisreich einbezogen, ohne die entscheidende Rolle der rassenideologischen deutschen Kriegführung zu verkleinern.

Ferguson schreibt eine stark personalisierte Geschichte. Wilson und Churchill, Hitler, Stalin und Mao sind die Hauptakteure. Die Gesellschaften, in denen sie agierten und die sie mehr oder weniger lenkten, werden einbezogen, aber die Personalisierung auch für Unterführer ersetzt oft komplexere Analysen. Ansonsten häuft der Autor gern Belege für ethnische Spannungen, Antisemitismus u. a., um etwa regionale Ausbreitung eines Sachverhalts zu erläutern. Bisweilen scheinen Epitheta einfach nur anekdotisch interessant zu sein, was wiederum die wichtigen analytischen Beobachtungen verschleiert. Gavrilo Princip, der Mörder von Sarajewo 1914, war tuberkulosekrank (137). Das spielt aber keine Rolle bei Erörterung seiner Motive - und über die Verbindungen zur serbischen Regierung enthält sich der Autor eines Urteils. Die Frau Erzherzog Franz Ferdinands war schwanger, als sie ermordet wurde. Sagt das etwas über Motive, Folgen?

Auch Widersprüchliches bleibt bei der Addition stehen. Zum Töten im Ersten Weltkrieg berichtet Ferguson von den Verbrüderungen der Soldaten um Weihnachten 1914 und später - die Offiziere allein hatten ihre Gründe und führten den Krieg. Der nächste Gedankengang: Gefangene wurden vielfach - und zwar auf allen Seiten - nicht gemacht, sondern sogleich getötet; die Narratio setzt aber mit den deutschen Mordakten in Belgien zu Kriegsbeginn (vor Weihnachten 1914) ein. Der dritte Gedanke: zu Kriegsende nahmen britische Offiziere deutsche Soldaten in ihren eigenen Gräben fest und schickten sie dann durchs Sperrfeuer zu den eigenen Leuten, was sich die Kriegsmüden gefallen ließen. Hinter diesen drei - an sich richtigen - Beobachtungen kann wohl kein Verlaufstypus stehen - bei unserem Autor reihen sich die Berichte additiv. Derartiges kommt häufiger vor. Das unmittelbare Töten von sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 wird ausführlich geschildert - nicht aber die viel umfassendere Hungerstrategie der deutschen Seite. Das SS-Massaker an amerikanischen Kriegsgefangenen in Malmédy 1944 kommt vor - dagegen werden alliierte Tötungen deutschen Kriegsgefangener geschnitten. Hier drohen die Proportionen verloren zu gehen.

Möglicherweise der Übersetzung ist die Wawelsburg zuzuschreiben, welche nicht die NS-Stätte und das Konzentrationslager bei Paderborn (mit einem e geschrieben) bezeichnet, sondern das Krakauer Königsschloss, den Wawel. Und deutsche "Elite-Divisionen" "Das Reich" und "Totenkopf" (666) waren Waffen-SS-Formationen, über deren radikale Kampfweise der Autor sich später noch einmal ausführlicher auslässt.

Was bleibt? Ein ambivalentes Urteil! Das auf Popularität abzielende Sachbuch ist nach wissenschaftlichem Standard gearbeitet. Es erklärt aber insgesamt zu wenig, auch wenn reihenweise kleinere Erkenntnisse mittlerer Reichweite abfallen. Das gilt vor allem für die im deutschen wie englischen Titel genannten Sachverhalte. Es reiht die Morde im zwischenstaatlichen Krieg, in Bürgerkriegen im eingangs genannten Spannungsfeld von Reichen, Rassen, Nationalitäten. Es beobachtet von je mehreren Seiten Planungen und zufällige Durchführung, situative Momente - aber es entsteht bei guter Schreibweise doch kein Gesamtbild, das einigermaßen schlüssig Gründe zu liefern imstande wäre. Dennoch habe ich insgesamt auch viel Neues und manches Bedenkenswerte erfahren.


Anmerkung:

[1] Die Daten beziehen sich auf die englischen Ausgaben: Paper and Iron, Cambridge 1995; The World's Banker, London 1998; The Pity of War, New York 1999; The Cash Nexus, New York 2001; Empire, London / New York 2003; Colossus, New York 2004; das hier besprochene Buch: The War of the World. Twentieth Century Conflict and the Descent of the West, London / New York 2006.

Jost Dülffer