Fritz Backhaus / Gisela Engel / Robert Liberles u.a. (Hgg.): Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit (= Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main; Bd. 9), Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 2006, 365 S., 37 Abb., ISBN 978-3-7973-0927-3, EUR 19,90
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Die Judengasse war über Jahrhunderte die Heimat der jüdischen Gemeinde in Frankfurt. Auf Anordnung Kaiser Friedrichs III. hatte der Frankfurter Rat 1462 die Juden gezwungen, ihre Synagoge und ihre Häuser im Zentrum aufzugeben und in eine neu angelegte Gasse am Rande der Stadt umzuziehen. Umgeben von einer Mauer und mit drei Toren versehen, die an Sonntagen und christlichen Feiertagen verschlossen wurden, entstand in Frankfurt das erste Ghetto in Deutschland. In einer Zeit, in der die meisten Städte und Territorien im Reich die Juden vertrieben, blieb Frankfurt aber auch die einzige Großstadt mit einer jüdischen Gemeinde. Seit dem 16. Jahrhundert wuchs sie zu einem der wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Europa heran.
Trotz der Bedeutung der Frankfurter Judengasse hat sich die Forschung nach 1945 kaum mit diesem Thema befasst. Erst in den letzten Jahren sind zahlreiche wichtige Forschungen zur Geschichte der Juden im Mittelalter und der Frühen Neuzeit entstanden, zu denen auch der vorliegende Tagungsband einen substantiellen Beitrag liefert. Veranstaltet vom Jüdischen Museum Frankfurt, dem Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit und dem Institut für Judaistik der Universität Frankfurt sowie dem Leo Baeck Institut Jerusalem fand 2004 eine internationale Tagung statt, auf der Historiker, Kunsthistoriker und Judaisten interdisziplinär ihre unterschiedlichen Ansätze der Geschichte der Frankfurter Judengasse vortrugen. Die bemerkenswerten Ergebnisse dieser Tagung sind in dem vorliegenden Band versammelt, der erstmals seit Isidors Kracauers immer noch bedeutsamer Gesamtdarstellung von 1925/1927 [1] wieder die reiche Geschichte der Judengasse erschließt.
In dem einleitenden Beitrag untersucht Benjamin Ravid den Begriff des Ghettos im europäischen Kontext und gelangt zu der überraschenden Erkenntnis, dass die Kenntnisse über die Entstehung und Entwicklung des Ghettos als rechtlicher und sozialer Institution in der Frühen Neuzeit noch immer sehr gering sind. So lässt sich noch nicht einmal eindeutig festlegen, ob Frankfurt tatsächlich die erste jüdische Zwangsiedlung in Europa darstellt.
Die weiteren Beiträge des Bandes sind nach Sachgruppen angeordnet und können hier nur sehr summarisch wiedergegeben werden. "Geschichtsschreibung und Sachüberreste" sind die Themen von Christhard Hoffmann und Annette Weber, die beide zeigen, wie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einschätzung des Ghettos die jüdische Geschichtsschreibung und das Geschichtsbild eines jüdischen Bürgertums geprägt hat. Insbesondere Hoffmanns Beitrag über Isidor Kracauer eröffnet neue Perspektiven auf einen der wichtigsten Vertreter der für Deutschland so charakteristischen jüdischen Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung.
Den 1714 bis 1718 erschienenen "Jüdischen Merckwürdigkeiten" von Johann Jakob Schudt sind unter der Überschrift "Ethnographie der Judengasse" drei Beträge gewidmet. Das mehrbändige Werk ist eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte nicht nur der Frankfurter Juden, das häufig benutzt, aber bislang selbst noch nicht untersucht worden ist. Yaacov Deutsch, Maria Diemling und Aya Lahav-Elyada vertreten dabei die These, dass sich der Rektor des Frankfurter Gymnasiums der Judengasse vor allem als Ethnograph näherte, der eine fremde Welt betrat.
Die "politischen und sozialen Strukturen im Ghetto" sind Thema der Aufsätze von Fritz Backhaus, Rotraud Ries und Melanie Aspey. Backhaus geht dabei den Ursachen der erstaunlichen Bevölkerungsexplosion des 16. Jahrhunderts nach, als die Einwohnerzahl der Gasse von knapp 200 auf über 2400 anwuchs. Ries verdeutlicht in einem Vergleich mit anderen jüdischen Siedlungszentren, dass Frankfurt seit dieser Zeit "Die Mitte eines Netzes" bildete, auf das sich die verwandtschaftlichen, ökonomischen und kulturell-religiösen Beziehungsgeflechte der mitteleuropäischen Juden konzentrierten. Aspey geht auf die Anfänge der berühmtesten Familie aus der Frankfurter Judengasse, die Rothschilds, ein und stellt die lange in Moskau verschollenen frühen Archivbestände zu dieser Familie vor.
Das Thema "Juden vor Gericht", das einen zentralen Bereich früher christlich-jüdischer Konfliktbewältigung darstellt, ist Inhalt von drei Aufsätzen. Gundula Grebner untersucht in ihrem Beitrag die Formen des Eides, den die Juden vor Frankfurter Gerichten leisten mussten und deren Stellenwert. Birgit E. Klein geht mit der "Frankfurter Rabbinerversammlung von 1603" einem der Versuche nach, eine reichsweite Organisation der Jüdischen Gemeinden zu schaffen, die als Verschwörung denunziert wurde und zu einer schweren Gefährdung der Frankfurter Gemeinde führte. Anhand ausgewählter Fälle aus dem 18. Jahrhundert untersucht Gabriela Schlick den Alltag vor den verschiedenen Gerichten der Reichsstadt sowie vor dem rabbinischen Gericht und gelangt zu der interessanten Feststellung, dass keine Unterschiede in der Behandlung zwischen Juden und Nicht-Juden erkennbar sind. Streitigkeiten zwischen Juden konnten auch vor den Bürgermeistern der Stadt und nicht nur vor den Rabbinern ausgetragen werden.
"Christlich-jüdische Beziehungen" unterschiedlichster Art analysieren die Beiträge von Klaus Wolf, Wolfgang Treue, Stephan Wendehorst und Robert Liberles. Wolf untersucht das Frankfurter Passionsspiel des Spätmittelalters, das unter großer Beteiligung der städtischen Bevölkerung auf öffentlichen Plätzen aufgeführt wurde und das für die Juden, die in den Spielen eindeutig als zeitgenössisch charakterisiert wurden, zu akuten Bedrohungen führen konnte. Treue zeigt, wie in den Konflikten, die in den 1620er Jahren die jüdische Gemeinde erschütterten, die Auseinandersetzungen, die wenige Jahre zuvor die städtische Gesellschaft im Fettmilch-Aufstand geprägt hatten, abgebildet wurden. Wendehorst weist auf die bislang weitgehend übersehene erste Huldigung der Frankfurter Juden nach der Wahl von Karl VI. 1711 hin, die eine bemerkenswerte Aufwertung ihres rechtlichen Status im Verhältnis zur Bürgerschaft darstellte. Liberles schließlich schildert in einem unterhaltsamen Beitrag, welche Überlegungen ein neues Genussmittel wie der Kaffee im 18. Jahrhundert einerseits auf rabbinischer Seite (Ist Kaffee koscher?), andererseits auf Seiten des städtischen Rates (Ist der Handel mit Kaffee Juden erlaubt?) auslöste.
Das abschließende Thema des Bandes bilden "Liturgie und Brauchtum". Rivka B. Kern Ulmer analysiert, auf welche Weise das Vintz-Hans-Lied mit seinen über 100 Strophen die Darstellung aktueller Geschehnisse wie die Vertreibung und Rettung im Fettmilchaufstand mit der biblischen Geschichte verbindet. Geoffrey Goldberg befasst sich mit dem Wandel der liturgischen Bräuche in der Ära der Emanzipation. Rachel L. Greenblatt analysiert in einem Vergleich mit der Prager Jüdischen Gemeinde die Liturgie der Erinnerung und ihre Funktion für die Jüdischen Gemeinden.
Mit ihren zahlreichen neuen Erkenntnissen machen die Beiträge dieses Sammelbandes deutlich, dass die Forschung zur Geschichte der Frankfurter Juden in der Frühen Neuzeit tatsächlich erst an einem Anfang steht. Dabei tritt allerdings der nachrangige Stellenwert der innerjüdischen Perspektive zu Tage, der sich aus mangelnder Einbeziehung jüdischer Quellen ergibt, die es wieder stärker ins Blickfeld zu rücken gilt. Zudem bleibt die stärkere Vernetzung der jüdischen mit der sehr reichen nicht-jüdischen Archivüberlieferung eines der Desiderate der zukünftigen Forschung, die der wichtige Band sehr deutlich gemacht hat.
Anmerkung:
[1] Isidor Kracauer: Geschichte der Juden in Frankfurt a. M. (1150-1824), 2 Bde., Frankfurt a. M. 1925/1927.
Rachel Heuberger