Gottfried Kiesow: Das verkannte Jahrhundert. Der Historismus am Beispiel Wiesbaden, Bonn: Deutsche Stiftung Denkmalschutz 2005, 224 S., 600 meist farb. Abb., CD-ROM, ISBN 978-3-936942-53-8, EUR 39,00
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Auch wenn ein Buchtitel wie 'Das verkannten Jahrhundert' anderes andeutet, scheint sich eine Wertschätzung für die Baukunst des Historismus mittlerweile sogar im weltweiten Maßstab etabliert zu haben: In Moskau entstand seit 1992 die Erlöserkathedrale neu, ägyptische Intellektuelle setzen sich ein für Renovierung und Erhalt der reichen historistischen Bausubstanz von Kairo, sei es doch das einzig Wertvolle, was die Epoche des Kolonialismus dem Land beschert habe, und selbst im fernen chinesischen Quingdao schätzt man die pittoresken Reize ostentativ 'altdeutscher' Kolonialarchitektur so sehr, dass man sogar bei Neubauten darauf rekurriert. Hierzulande ist symptomatisch, dass Bankinstitute, einstmals berüchtigt für die modernistische Banalität ihrer Filialen, an historistischen Stadtpalästen wieder die ursprünglichen Schaufenster herstellen. Wenn die Deutsche Stiftung für Denkmalschutz in ihrer Reihe 'MONUMENTE Publikationen' eine Schrift herausgibt, welche "auch Eigentümer und Planer, Kommunen und Denkmalpfleger in ihrem Engagement für die Architektur des 19. Jahrhunderts bestärken" soll (Vorwort des Generalsekretärs, 7), wird es also vor allem darauf ankommen, die Wertschätzung nun auch mit vermehrten Einsichten und Kenntnissen auszurüsten. Der Band des namhaften Denkmalpflegers Kiesow überzeugt rasch davon, dass der bauliche Bestand von Wiesbaden, den der Autor nach den Kriegsverlusten in Berlin "zum bedeutendsten Zeugnis des Historismus in Deutschland" (217) erklärt, jedenfalls der dafür geeignete Gegenstand wäre.
Mit Ausnahme der ordentlichen kartonierten Bindung erscheint die Buchpublikation selbst aber nur mäßig ansprechend. In der Art populärer Sachbücher ist der Text mit farbiger Schattierung hinterlegt und mit vielen kleineren Abbildungen versehen. Gelegentlich begleiten sechs oder sieben Fotografien den Text, wobei der Unterschied zwischen Wiesbadener Bauten und herangezogenen Stilexempeln aus anderen Städten im Layout nicht kenntlich gemacht wurde. Daraus resultierende Irritationen erledigen sich überraschend, wenn man nach Öffnen der beiliegenden CD feststellt, dass nicht das Buch, sondern die Präsentation auf dem elektronischen Datenträger maßgeblich für die mediendidaktische Konzeption war: der Text in überschaubaren, auch am Bildschirm gut lesbaren Portionen geboten, die Abbildungen in unmittelbar einleuchtender Weise als Anschauungsmaterial beigegeben und mit abrufbaren Vergrößerungen von befriedigender Bildqualität. Man sollte nicht versäumen, über das CD-Menü 'Einstellungen' das Potenzial seines Bildschirms für eine möglichst hohe Auflösung der Bilddateien zu nutzen. Weitere Vorzüge der CD sind eine Volltext-Suche, die ein im Buch fehlendes Register ersetzt, sowie eine multimediale Bilderfolge mit einer gesprochenen Kurzfassung des Textes und kleineren erklärenden Animationen. Lediglich die Zoom-Funktion des Menüs 'Stadtpläne' scheint funktional nicht recht gelöst zu sein.
Die Einführung in die Geschichte Wiesbadens bietet in einer straffen essayistischen Zusammenfassung auf 26 Seiten die Grundlagen für das Verständnis der baulichen Entwicklung. Neben den Kerndaten wird dabei auch Atmosphärisches vermittelt: Von der kurzen Zeit als Residenz des Herzogtums Nassau (1816 bis 1866) über den Kurbetrieb eines Weltbades mit internationaler Gästeschar und dem damit verbundenen Zuzug bis zur preußischen Beamtenstadt, zugleich beliebter Wohnsitz vermögender Pensionäre, was das schwache 'bodenständige' Element und auch die erhebliche ansässige Kaufkraft erklärt. Aus der Darstellung spricht die Sicht des Wiesbadeners, engagierten Denkmalpflegers und kenntnisreichen Lokalhistorikers, die neben Peripherem wie einer fränkischen Turmburg (13) auch bereits architekturgeschichtlich Wichtiges anspricht wie einschlägige Kriegsschäden und die radikalen Umbaupläne von Ernst May, 1963 publiziert unter dem Titel "Das Neue Wiesbaden".
Das umfangreiche Kapitel zur 'Stadtentwicklung Wiesbadens im Historismus' (30-101) bietet - mit Ausblicken auf Barock und Moderne - eine typische Fallstudie über die städtebauliche Wandlung einer mitteleuropäischen Stadt im 19. Jahrhundert sowie die dabei wirksamen Faktoren und Kriterien, eine Darstellung, die sich dank zahlreicher Querverweise auf parallele Vorgänge andernorts auch als eine Einführung in die Geschichte neuzeitlicher Urbanistik eignet. Hauptstationen sind die Ausprägung des Historischen Fünfecks im Klassizismus als "einmalige Schöpfung einer geometrischen Grundform des Stadtrandes" (56), die Erweiterung der Vorstädte im Rastersystem in der preußischen Ära sowie der Ausbau zu einer gründerzeitlichen Großstadt in der Zeit um 1900 mit Verdichtung und Erhöhung der Bebauung, welche eine Individualität der Gebäude mit der Fassadenkunst des späten Historismus realisiert, schließlich die verwirklichten und die unterbliebenen Großsiedlungsprojekte der Nachkriegszeit, darunter der von Ernst May konzipierte 'Bierstadter Hang', für den die gesamte historische Bebauung im gleichnamigen Villenviertel und im Bergkirchengebiet abgeräumt worden wäre. Lokale Größen der Urbanistik - Carl Florian Goetz, Johann Christian Zais, Karl Boos oder Philipp Hoffmann etwa - scheinen in diesem Kapitel ebenso auf wie interessante Beurteilungen Kiesows, darunter ein beiläufiges Plädoyer gegen den totalitären politischen Imperativ der "Integration' ethnischer Minderheiten" (86/87).
In dem mehr als 100 Seiten umfassenden Hauptteil gibt allein schon die Gliederung zu erkennen, welchen Ansatz der Autor für geeignet hält, sein breiter gefasstes Publikum an ein besseres Verständnis der Baukunst des Historismus heranzuführen: Es ist der tradierte, selbstsichere Standpunkt des gebildeten Bürgertums, der eine differenzierte Stilgeschichte als das Mittel schlechthin begreift, sich selbst und anderen die Werke der bildenden Kunst zu erklären, mithin also der Ansatz, den die Kunstgeschichte parallel zur und mitwirkend an der Architektur des Historismus erarbeitet hat. Angewandt auf das Thema Wiesbaden lautet die Epochengliederung hier Klassizismus (1803-35), den der Autor als antikisierenden Historismus verstehen möchte, romantischer Historismus (1835-66), strenger Historismus (1866-88) sowie Späthistorismus und Jugendstil (1888-1914). In der Konsequenz weist die Darstellung sowohl die Verdienste als auch die immanenten Grenzen der formengeschichtlichen Analyse auf. So unternimmt es der Autor, "Gestaltungsziele" des Klassizismus herauszuarbeiten, und verweist anhand der Exempel unermüdlich auf charakteristische Ausprägungen und Details - sicher nicht ohne Nutzen im Sinne einer Schule des Sehens. Andererseits fällt auch in Kiesows Buch auf, dass die so umsichtig herausgearbeitete und am Gegenstand durchaus nachvollziehbare Abfolge der Stile letztlich als ein Selbstzweck der Geschichte erscheint. Wenn das eine oder andere Bauwerk noch einer älteren Epoche 'verhaftet' ist, mithin also den eigentlich gültigen Fahrplan der Stile verpasst hat, oder wenn ein Phänomen wie der Neoklassizismus um 1910 tautologisch als ein Zwischenschritt vom Jugendstil hin zur Moderne bewertet wird (213), dann können die Motive und die Ideenwelt der Architekten und Bauherrn, auch die Erwartungen des Publikums, die zu den überaus aufwändigen und fantasievollen Formulierungen des Historismus geführt haben, eigentlich nicht deutlich werden. Solche Fragestellungen ersetzt das stilgeschichtliche Konzept gleichermaßen durch seine geschulte Routine. Dabei würden im Text selbst wichtige Stichworte dafür aufscheinen: die unter landesherrlicher Patronanz entstandene Verbindung von 'altrussischen' Bauformen mit italienischer Renaissance im Falle der Griechischen Kapelle (158/159); eine Ausrichtung der Wirkung eines Gebäudes auf die 'Gedächtnisbilder' der Massen nach Gottfried Semper (174); die Ansprüche einer hypertrophen Fest- und Bankettkultur der wilhelminischen Oberschicht beim üppigen Foyer des Hoftheaters (182); die Ausprägung persönlicher oder nationaler Identitäten beim 'Weißen Haus' der aus Amerika gebürtigen Söhnlein-Gattin (200).
Eine diese kulturgeschichtlichen Aspekte entwickelnde Theorie des Historismus ist Kiesows Sache nicht, obwohl solche Fragen für eine Gesellschaft, die mittlerweile längst wieder Aspekte der Lebensqualität und der eigenen Identität mit solcher Architektur verknüpft, nicht ohne Interesse wären. Hier bleiben weitläufige Felder für die kunsthistorische Forschung zu bestellen. Gleichwohl soll aber festgehalten sein, dass Gottfried Kiesow, eingebaut in das Grundgerüst der Stilgeschichte, vielfältige Kenntnisse und Einsichten vermittelt. An Hauptwerken wie der Marktkirche von Karl Boos und dem ehemaligen Hoftheater, den prächtigen Sälen des Neuen Kurhauses, der Bebauung des Kaiser-Friedrich-Rings und der protestantischen Ringkirche eröffnen sich eine Fülle von Beobachtungen und Bezügen. Darum herum gruppiert sich eine erstaunliche Dichte und Variabilität der Denkmäler, die man in der vorliegenden Studien- bzw. Lesebuch-CD zur historistischen Architektur jedenfalls besser und lehrreicher aufbereitet findet, als es das bei einem lexikalisch angelegten Architekturführer Wiesbadens der Fall wäre.
Ulrich Fürst