David Stevenson: 1914-1918. Der Erste Weltkrieg. Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt und Ursula Vones-Liebenstein, Düsseldorf / Zürich: Artemis & Winkler 2006, 799 S., ISBN 978-3-538-07214-5, EUR 39,90
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In der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit fristet der Erste Weltkrieg im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg immer noch ein Schattendasein. Für die Geschichtswissenschaft gilt das freilich nicht mehr, denn hier hat sich in den vergangenen Jahren eine rege Forschung entwickelt, die sich modernen Fragestellungen und Themenbereichen widmet. Wenngleich mittlerweile eine deutsche Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg vorliegt, die weltweit ihresgleichen sucht [1], sind neuere Gesamtdarstellungen dieses globalen Konflikts aus deutscher Feder aber immer noch die Ausnahme. [2] Daher wundert es nicht, wenn das vorliegende Buch eine Übersetzung aus dem Englischen ist. Der an der renommierten London School of Economics lehrende David Stevenson gilt schon seit Längerem als ausgewiesener Experte für den Ersten Weltkrieg und veröffentlichte dieses Überblickswerk im Jahr 2004.
Stevenson ist es gelungen, eine äußerst fundierte und auf höchstem Niveau geschriebene Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs vorzulegen. Dabei fließen verschiedene Ansätze der Geschichtswissenschaft zusammen, die von vielen Vertretern der Zunft zu Unrecht als nur schwer miteinander vereinbar angesehen werden. Der Autor beweist eindrucksvoll, wie Politikgeschichte, Sozialgeschichte, Kulturgeschichte und operative Militärgeschichte zusammengeführt werden können.
Wohltuend ist auch die multinationale Sicht, neigt doch vor allem die deutsche Geschichtswissenschaft bei der Bewertung der beiden Weltkriege zu einer germanozentrischen Perspektive. Auch Stevenson betont zu Recht die Schlüsselrolle des Deutschen Reichs in der Juli-Krise von 1914, doch argumentiert er in der Gesamtschau ausgewogen und zeigt, wie auch die anderen europäischen Staaten ihre Interessen verfolgten und zum Kriegsausbruch beitrugen. Ebenso überzeugend gelingt es Stevenson, die komplizierten innenpolitischen Vorgänge in den einzelnen Krieg führenden Staaten während der Jahre 1914 bis 1918 zu analysieren, die Kriegsziel-Diskussionen abwägend zu bewerten und die militärischen Ereignisse sowie Interdependenzen auf den Schlachtfeldern aufzuzeigen.
Bemerkenswert ist Stevensons Gewichtung für die Zeit vor und nach dem Krieg. So beschäftigt er sich vergleichsweise kurz mit den Ursprüngen des Kriegs und der Juli-Krise, widmet aber den Folgen bzw. - wie er es nennt - dem "Vermächtnis des Krieges" deutlich mehr Raum. Dieser Ansatz mag für zukünftige Forscher richtungsweisend sein, sind doch die Gründe und Auslöser dieses globalen Konflikts seit der "Fischer-Kontroverse" sehr gut erforscht, während man vor allem den indirekten Nachwirkungen dieser "Urkatastrophe" bisher deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Ein kleiner Kritikpunkt an der ansonsten exzellenten Studie ließe sich in der Beurteilung der Person Fritz Fischers anbringen, wenngleich man berücksichtigen muss, dass der Autor die neuesten Forschungen zur Rolle Fischers während der NS-Diktatur noch nicht rezipieren konnte. [3] So abwägend Stevenson in der Beurteilung der Thesen Fischers ist und so sehr man Fischers "Griff nach der Weltmacht" als fundamentalen Beitrag zur Weltkriegsforschung werten muss, so wirken die Elogen auf dessen Person ("Vorreiter einer globalen Reaktion gegen den Konservativismus des Kalten Krieges", 681) doch etwas übertrieben. Als verharmlosend kann man auch Stevensons Bezeichnung "Bevölkerungsaustausch" (676, im englischen Original: "population transfers") für die Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern sowie der Polen aus Ostpolen nach 1944 interpretieren.
Insgesamt sind dies aber Marginalien. Man muss dem Verlag für seine Entscheidung beglückwünschen, dieses Buch ins Deutsche übersetzen zu lassen. Zugleich wird man ihm jedoch nicht eine herbe Kritik für die Qualität der Übersetzung und des Lektorats ersparen können. So stören zahlreiche Druck- und Rechtschreibfehler, und auch die Unterteilung in eine Auswahl neuerer deutschsprachiger Literatur und einem allgemeinen Literaturverzeichnis ist verwirrend: Fritz Fischers Studien aus den 1960er- und 1970er-Jahren stehen beispielsweise bei der neueren (!) deutschsprachigen Literatur. Ebenso sollte ein jeder Militärhistoriker wissen, dass der bedeutende deutsche Erste-Weltkrieg-Historiker Förster auf den Vornamen Stig und nicht Jürgen hört. Auch die Karten im Anhang offenbaren gravierende Mängel, die teilweise aus dem englischen Original übernommen wurden. So sind einige Ortsnamen unleserlich (Karten 3 und 6) oder Ortsbezeichnungen bzw. Ortszuweisungen zumindest zweifelhaft: Das Saargebiet wird größtenteils nach Lothringen verlegt, die Vogesen teilweise in den Pfälzer Wald (Karten 1 und 4), Ljubljana mit zwei "l" am Anfang geschrieben, Tirol als Teil der Schweiz dargestellt (Karte 5).
Stevensons Buch gehört zum Besten, was man derzeit zum Ersten Weltkrieg in deutschen Buchläden finden kann. Es wird gewiss für lange Zeit ein Standardwerk bleiben. Besonders an der multinationalen Perspektive sowie an der Vereinigung verschiedener methodischer Ansätze werden sich alle künftigen Gesamtdarstellungen messen müssen. Allerdings hätte der Verlag noch einige Monate mit der deutschen Veröffentlichung warten sollen, um die Probleme in Übersetzung und Lektorat in den Griff zu bekommen. Das Buch hätte dies verdient gehabt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn u. a. 2004; s. hierzu die Rezension von Wilfried Rudloff, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/07/6594.html.
[2] Vgl. Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn u.a. 2004; s. hierzu die Rezension von Wilfried Rudloff, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/07/6594.html.
[3] Vgl. Klaus Große Kracht: Fritz Fischer und der deutsche Protestantismus, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 10 (2003), 224-252.
Peter Lieb