Stanisław Ciesielski (Hg.): Umsiedlung der Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Polen in den Jahren 1944-1947, Marburg: Herder-Institut 2006, ISBN 978-3-87969-323-8, EUR 70,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Włodzimierz Borodziej / Claudia Kraft: "Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden...". Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945 - 1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Bd. 1: Zentrale Behörden. Wojewodschaft Allenstein, Marburg: Herder-Institut 2000
Jan M. Piskorski: Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift. Aus dem Polnischen von Andreas Warnecke, Osnabrück: fibre Verlag 2005
In der deutschen Wahrnehmung stand die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung aus den vormaligen polnischen Ostgebieten bislang im Schatten der gleichzeitigen Flucht und Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung. Erst während der erinnerungspolitischen Debatten der letzten Jahre sind Stimmen vernehmbar geworden, die die beiden Vorgänge nicht nur auf eine Reihe gemeinsamer Ursachen zurückführten, sondern auch die Ähnlichkeiten der Erfahrungen polnischer und deutscher Vertriebener betonten und darin eine Möglichkeit zur Annäherung der beiden nationalen Geschichtsdiskurse sahen. Mit der Vorlage dieser Fassung einer bereits 1999 auf polnisch veröffentlichten Dokumentenedition [1] erhält nun auch der deutschsprachige Leser die Gelegenheit zu überprüfen, inwieweit ein solcher Vergleich der jeweiligen Erlebnisse von Heimatverlust und erzwungener Migration tragfähig ist.
Vordergründig zumindest handelte es sich um zwei qualitativ grundlegend verschiedene Vorgänge: auf der einen Seite um eine einseitig von Polen und der UdSSR beschlossene und auch von den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs unterstützte Totalaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus den vormaligen reichsdeutschen Ostgebieten, auf der anderen um ein bilaterales Abkommen über einen wechselseitigen "Bevölkerungsaustausch". Erst bei näherer Betrachtung der realhistorischen Vorgänge erschließen sich die Ähnlichkeiten: Obwohl die Aussiedlung der jeweiligen nationalen Minderheiten in den Nachbarstaat im Prinzip freiwillig und unter Wahrung von Eigentums- und Entschädigungsansprüchen stattfinden sollte, brachte die Praxis der Aussiedlung nicht nur zahlreiche Unregelmäßigkeiten und Rechtsbrüche mit sich, sondern auch einen hohen Grad von Gewaltanwendung.
Gegenüber der polnischen Originalausgabe sind einige Dokumente neu aufgenommen, dafür andere fortgelassen worden. Unter den insgesamt 225 Dokumenten der deutschen Ausgabe befinden sich 47 aus postsowjetischen Archiven. Dankenswerterweise sind dabei diejenigen Stücke, die schon früher in andere polnische Editionen eingegangen und daher in die polnische Fassung nur als Regest aufgenommen worden waren, in der deutschen Ausgabe im Volltext wiedergegeben. Berücksichtigt wurden ausschließlich Dokumente behördlicher Provenienz. Das ist insofern bedauerlich, als in polnischen Archiven noch Schätze an Erinnerungsberichten zu heben sind, die aus politischen Gründen vor 1989 nicht veröffentlicht werden konnten; erst diese Augenzeugen- und Betroffenenberichte würden deutlich machen, wie weit die Parallelen der unterschiedlichen Vertreibungsvorgänge auf der subjektiven Erlebnisebene tatsächlich gingen.
Chronologisch reicht die Quellenauswahl von ersten Instruktionen des sowjetischen Innenkommissars Lavrentij Berija vom September 1944 bis zu Berichten und Schreiben im Nachgang des offiziellen Abschlusses des Bevölkerungsaustauschs von der Jahreswende 1947/48. Als Beispiel der polnisch-sowjetischen Abkommen ist erstmals auf Deutsch dasjenige mit der Litauischen SSR vom 22. September 1944 abgedruckt (Nr. 4). Insgesamt sind 15 normative Quellen (Abkommen, Instruktionen, Runderlasse u. ä.) aufgenommen worden; der große Rest verteilt sich auf den zwischenstaatlichen und innerbehördlichen Schriftverkehr, amtliche Berichte und Statistiken sowie einige wenige zeitgenössische Umsiedlerberichte, die den Weg in die Behördenakten gefunden haben. Mit gebührender quellenkritischer Skepsis merkt der Herausgeber Stanisław Ciesielski in seiner Einleitung an, dass aus dem überlieferten Material heraus nicht abzuschätzen sei, ob die geschilderten Verstöße gegen die Vereinbarungen, Amtsmissbrauch, Missstände bei den Aussiedlungstransporten, an den Etappenpunkten des polnischen Staatlichen Repatriierungsamts (PUR) und schließlich bei der Ansiedlung und der Eigentumsentschädigung der Aussiedler repräsentativ seien; denn für berichtenswert seien vor allem solche Missstände, nicht dagegen der Normalfall befunden worden. Tatsächlich stellt sich das historische Induktionsproblem bei Massenquellen wie den hier exemplarisch vorgestellten in verschärfter Form. Ciesielskis Skepsis kann jedoch entgegengehalten werden, dass die damaligen Behörden im allgemeinen eher ein Interesse hatten, über reibungslose Abläufe zu berichten. Die schiere Menge der überlieferten Verstöße und Verbrechen, darunter Plünderungen und Vergewaltigungen durch sowjetische Marodeure, Übergriffe sowjetischer Militärkommandanten, Todesfälle bei den Transporten (deren Gesamtzahl offen bleibt) und der Widerstand der von Eigeninteressen geleiteten polnischen Behörden besonders in den "altpolnischen" Gebieten gegen die Ansiedlung und Landausstattung der Aussiedler lässt jedoch erkennen, dass es sich bei derartigen Vorkommnissen eher um die Regel als die Ausnahme handelte.
Keiner in Themensetzung und Dokumentenauswahl notwendigen Beschränkungen unterliegenden Edition kann zum Vorwurf gemacht werden, dass sie bestimmte Forschungsdesiderate offen lässt. In den Sinn kommen hier besonders vier Aspekte: die Innenperspektive der sowjetischen Akteure auf Unions- und Republiksebene; die Verzahnung der Aussiedlungsvorgänge auf beiden Seiten der Grenze, welche das Charakteristikum des "Bevölkerungsaustausches" gegenüber einer einseitigen Vertreibung darstellte; die Situation der polnischen Aussiedler im Hinblick auf die Landreform in Zentralpolen; schließlich die Zusammenhänge zwischen der Vertreibung der Deutschen aus den neupolnischen Gebieten und deren Wiederaufsiedlung. All dies wird in der vorliegenden Dokumentation zwangsläufig nur punktuell angeschnitten. In jedem Fall ist die deutsche Übersetzung ein wichtiger Beitrag dazu, den hierzulande hartnäckig verteidigten Mythos der historischen Unvergleichbarkeit der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten weiter in Frage zu stellen.
Anmerkung:
[1] Stanisław Ciesielski (Hg.): Przesiedlenie ludności polskiej z kresów wschodnich do Polski 1944-1947 [Die Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus den östlichen Grenzgebieten nach Polen 1944-1947], Warszawa 1999.
Andreas R. Hofmann