Rezension über:

Daniel Gerson: Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848 (= Antisemitismus. Geschichte und Strukturen; Bd. 1), Essen: Klartext 2006, 332 S., ISBN 978-3-89861-408-5, EUR 24,90
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Rezension von:
Uri Kaufmann
Dossenheim
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Uri Kaufmann: Rezension von: Daniel Gerson: Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848, Essen: Klartext 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/10513.html


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Daniel Gerson: Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich

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Die am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin 2005 eingereichte Dissertation behandelt ein Thema, um das die französische Historiografie lange einen Bogen machte: Die Judenfeindschaft im Elsass zwischen 1770 und 1850. In der klassischen politikgeschichtlich orientierten Literatur wird immer das Datum der Gleichstellung ohne Vorbedingungen vom September 1791 erwähnt, ohne auf die Umsetzung in den wichtigsten Stammlanden der französischen Juden in Elsass-Lothringen zu schauen. Hier wohnten um 1848 immer noch sechzig Prozent aller französischen Juden.

Die französische Historiografie war stark durch Vorgänge in der Metropole Paris geprägt, Vorgänge "in der Provinz" wurden selten wahrgenommen. Die Mehrheit der Elsässer Historiker gehören nicht unbedingt zur Gruppe der kritischen Forscher, sondern eher zu den affirmativen Heimatforschern. Das Bild der ländlichen Idylle würde durch die Behandlung von Phänomenen wie Judenfeindschaft oder Kollaboration (zwischen 1939 und 1945) gestört: Das möchte man lieber nicht. Dazu passt auch, dass die Archivquellen der Besatzungszeit noch heute streng unter Verschluss gehalten werden. Daniel Gerson erschließt neue Quellen und stellt sie auch ausführlich vor. Er benutzte Material aus den beiden Archives Départementales in Colmar und Strasbourg und den Archives Nationales in Paris, nutzte aber auch die jüdische und christliche Presse in Stichproben.

Seine Vorgehensweise ist eine chronologische: Von François Hell, einem judenfeindlichen Landrichter in Ferrette (1772ff.) schlägt er einen Bogen zur Revolution 1789, Napoleon, der befristeten Einführung von Handels- und Niederlassungsbeschränkungen ("Décret infâme" 1808-1818) und Streitschriften und schließt mit einer ausführlichen Darstellung der Pogrome des Jahres 1848 (229-297). Diese werden hier eingehender als etwa bei Stefan Rohrbacher [1] behandelt. Gerson entwirft ein Profil der Täter und weist auf die schonende Behandlung der Pogromeure durch viele Gerichte hin. Als eine zentrale Persönlichkeit stellt er Rabbiner Moise Nordmann aus Hegenheim (bei Basel) heraus, der eine Selbstschutzgruppe organisierte und in Paris die Regierung alarmierte. Dagegen kann Gerson nicht erklären, weshalb es dreißig Jahre vorher, 1819, nicht zu Ausschreitungen im Elsass nach süddeutschem Vorbild gekommen war. Hier wäre noch Forschungsbedarf vorhanden.

Es zeigt sich nun, dass unter den christlichen Elsässer Notabeln tief verwurzelte Widerstände gegen Judentum und Juden bis nach 1850 herrschten, trotz der von Paris verordneten Gleichstellung. Sogar höhere Staatsbeamte waren von diesen Vorbehalten in den 1840er Jahren geprägt. Die jüdische Religion und Lebenspraxis galten als "fanatisch" und "unaufgeklärt", ihre Handelstätigkeit als "wucherisch", ihr Idiom, das Elsässer Jüdisch-Deutsche, wurde als Zeichen der (kulturellen) Barbarei aufgefasst. Gleichzeitig finden sich durchaus klassische religiöse vor-aufklärerische Stereotypen gegen Juden und Judentum. Letztere waren besonders in der konservativen bäuerlichen Bevölkerung verbreitet. Gerade die kulturelle Mittelstellung des Elsass zwischen dem deutsch- und dem französischsprachigen Raum macht es interessant, der Rezeption der verschiedenen judenfeindlichen Traditionen - gerade auch der aufklärerischen! - nachzugehen.

Ein Schönheitsfehler ist, dass Gerson schreibt, die Paulskirche-Versammlung in Frankfurt habe sich für die Beibehaltung diskriminierender Gesetze ausgesprochen (252). Das Gegenteil war der Fall: Der jüdische Anwalt aus Hamburg, Gabriel Riesser, konnte sich am 28.8.1848 durchsetzen. Allerdings war diesen Beschlüssen kaum Wirkung beschieden, da die meisten deutschen Staaten dieses Anliegen nach 1850 nicht aufnahmen oder die Beschlüsse der deutschen Nationalversammlung für illegal erklärten.

Die Arbeit von Gerson schließt eine wichtige Lücke in der Erforschung der Judenfeindschaft im Vormärz. Gerade der deutschen Historiografie täte es gut, mehr die nationalen Grenzen zu überwinden. Die deutschen Frankreich-Historiker könnten sich mit Gewinn für diesen Aspekt der grenzübergreifenden Mentalitätsgeschichte interessieren.


Anmerkung:

[1] Stefan Rohrbacher: Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815-1848/49) (= Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1993,182-186.

Uri Kaufmann