Rezension über:

Alexandra Gerstner / Barbara Könczöl / Janina Nentwig (Hgg.): Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, XIV + 184 S., ISBN 978-3-631-54168-5, EUR 34,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Michael Hau
School of Historical Studies, Monash University, Melbourne
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Michael Hau: Rezension von: Alexandra Gerstner / Barbara Könczöl / Janina Nentwig (Hgg.): Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/10790.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Alexandra Gerstner / Barbara Könczöl / Janina Nentwig (Hgg.): Der Neue Mensch

Textgröße: A A A

Visionen des "Neuen Menschen" standen im Mittelpunkt vieler Utopien und Reformkonzepte der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Aus der Sicht der Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes verspricht deshalb eine vergleichende Untersuchung des Topos des "Neuen Menschen" Einblicke in die Wünsche, Hoffnungen und Ziele verschiedenster gesellschaftlicher und politischer Gruppen und intellektueller Eliten. Sie sehen die Idee des "Neuen Menschen" verknüpft mit Annahmen über die "Machbarkeit der Welt", die "den Neuen Menschen und die Neue Gesellschaft vom utopischen Nirgendwo in eine diesseitige Zukunft verlagerte[n]" (VIII). Während die Historiografie der letzten Jahre sich hauptsächlich mit Konzepten des "Neuen Menschen" in der Körperkultur und damit verbundenen Hygienediskursen auseinandersetzte, geht dieser Tagungsband darüber hinaus. [1]

Die Beiträge untersuchen die Funktion und Bedeutungen von Denkfiguren des "Neuen Menschen" in der Germanistik, in Literatur, Rechtswissenschaft, Philosophie, im Sport, in politischen Diskursen, in der Architektur und in der bildenden Kunst. Der Heterogenität der Themen entspricht die Heterogenität der disziplinären Verankerung der einzelnen Autoren. Neben Historikerinnen und Philosophen befinden sich sowohl Kunst- und Architekturhistorikerinnen als auch Medienwissenschaftler unter den Verfassern. Die Herausgeberinnen hoffen, dass sich aus der Unterschiedlichkeit der wissenschaftlichen Ansätze ein tieferes, interdisziplinäres Verständnis des Problemkomplexes "Neuer Mensch" ergibt. Die meisten Aufsätze beschäftigen sich mit dem deutschsprachigen Raum. Einige wenige Beiträge untersuchen Entwicklungen in der Sowjetunion und in Frankreich.

Der Band ist in drei Abschnitte geteilt. Der erste Abschnitt nimmt Utopien des "Neuen Menschen" in den Blick, der zweite beschäftigt sich mit historischen Leitbildern, während der dritte sich mit Reformkonzepten auseinandersetzt. Im ersten Teil untersucht Claudia Bahmer André Malraux' Konzeption des "L'Homme Nouveau" in seinen kunsttheoretischen Schriften. Bei Malraux zeichnet sich der "Neue Mensch" durch die Erkenntnis aus, Teil eines Prozesses der ständigen Metamorphose zu sein, der sich am deutlichsten in der Kunst vollzieht. Im Anschluss daran entschlüsselt Alexander Schmitz politisch-anthropologische Annahmen der auf der Freund-Feind-Dichotomie beruhenden Rechtskonzeptionen von Carl Schmitt, während Nele Schneidereit die kritische Auseinandersetzung des Philosophen Helmuth Plessner mit zeitgenössischen Utopien würdigt. Plessner wandte sich gegen Utopien von der "idealen Gemeinschaft", da diese eine totale Durchbildung der Menschheit durch ein Prinzip verlangten und deshalb die Tendenz zu einem politisch-totalitären Zwangsprogramm hatten.

Für Sozial- und Kulturhistoriker ist die Sektion über Leitbilder des "Neuen Menschen" wohl am Interessantesten. Alexandra Gerstner zeigt am Beispiel von Graf Richard Coudenhove-Kalergis Vision einer paneuropäischen Neo-Aristokratie, dass nicht alle Rassentheorien der Zwanzigerjahre einem antisemitischen nordischen Rassismus verpflichtet waren. Der Begründer der Paneuropa-Union sah die Zukunft eines friedlichen Europas in der Schaffung einer neuen Aristokratie durch die Vermischung des Hochadels mit den Juden, da dies zwei "Heldenrassen" (65) verbinden würde. Eingebunden war diese Vision in praktische Überlegungen zur Menschenzucht und Eugenik, die zwar auf "kämpferischer Auslese" (65) beruhte, Kriege aber als Ausleseinstrument ausschloss, da im modernen Krieg die besten Männer sterben und nur die Schwächeren zur Fortpflanzung kommen würden.

In einem weit ausholenden Überblick beschreibt Frank Becker den Sport in Gesellschaftsentwürfen der klassischen Moderne. Die Rolle des Sports für nationalsozialistische Vorstellungen des "Neuen Menschen" wird dabei ebenso angeschnitten wie (basierend auf der Arbeit von Torsten Rüting zu Pavlov) die Zusammenhänge zwischen sowjetischem Behaviorismus und der Konditionierung durch sportliches Training. Becker konstatiert zwar einen Zusammenhang zwischen der Arbeitsintensivierung durch Akkord in der Industrieproduktion und der Leistungssteigerung durch sportliches Training und weist auf Verbindungen zwischen Weimarer Arbeitsphysiologie und Sportwissenschaft hin. Er übersieht aber, dass es den meisten Wissenschaftlern weniger darum ging, Arbeitern und Sportlern kurzfristige körperliche Höchstleistungen zu ermöglichen, sondern ihre langfristige körperliche Leistungsfähigkeit im Rahmen einer rationellen 'Menschenwirtschaft' zu gewährleisten. Der "Neue Mensch" sollte seine Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter beibehalten. Aus der Sicht Weimarer Sport- und Arbeitsmediziner gefährdete eine rücksichtlose körperliche Leistungsintensivierung nach amerikanischem Vorbild eine - heute würde man sagen - nachhaltige 'Menschenökonomie', auf die Deutschland nach den Verlusten des Ersten Weltkriegs angewiesen war.

Neuland betritt Sonja Levsen. Ihre Arbeit zeigt, wie die völkische Fundamentalpolitisierung vieler Weimarer Studenten im Ideal eines "Neuen Studenten" mündete, der die Führung in einer neuen klassenübergreifenden Volksgemeinschaft beanspruchte. Körperliche Ertüchtigung sollte die Grundlage sein für die soldatische Härte und den unnachgiebigen Willen zur Tat, die diesen Führungsanspruch unterstrichen.

Im Abschnitt über Reformkonzepte widmet sich Martina Steber den pädagogischen Idealen in Debatten zur Heimatkunde. In Anlehnung an die Arbeiten von Alon Confino und Celia Applegate betont sie die zentrale Rolle lokaler Heimatvorstellungen für die emotionale Aneignung nationalistischer Orientierungen. In der Heimatkunde bestärkten reformpädagogische Ansätze, die den Wert der individuellen Entwicklung und Erfahrung des Kindes betonten und eine Verbindung von emotionaler und rationaler Erkenntnis forderten, erzieherische Ideale, die in der Auseinandersetzung mit der Heimat eine völkische Kraftquelle der Nation hervorbringen sollten. Den Abschluss des Bandes bildet ein Aufsatz von Diana Zitzmann über den Zusammenhang zwischen Avantgarde-Architektur und Idealen des "Neuen Menschen" in Leningrad. Sie zeigt, wie der Drang zur ökonomischen Rationalisierung während der forcierten Industrialisierung der Sowjetunion diejenigen Ansätze in der Sowjetarchitektur zurückdrängte, die Utopien einer Vergesellschaftung des Alltagslebens durch die Schaffung von Gemeinschaftseinrichtungen (Küchen, Kinderbetreuungseinrichtungen usw.) zu verwirklichen suchten.

Nicht alle Aufsätze beschäftigen sich mit Denkmustern zum "Neuen Menschen". Die Artikel von Marcel Lepper zur Rezeption des "barocken Helden" in der Germanistik und von Janina Nentwig über den veristischen Maler Georg Scholz streifen dieses Thema nur am Rande. Es fällt zudem auf, dass die Autoren fast immer den Ansätzen und Konventionen ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin verhaftet bleiben. Im Gegensatz zu den Erwartungen der Herausgeberinnen bietet kaum einer der Beiträge eine wirklich interdisziplinäre Analyse, die die Ansätze verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen systematisch integriert. Die Bandbreite an Themen, die das schmale Buch bietet, ist dennoch beeindruckend.


Anmerkung:

[1] Als Beispiele für divergierende Ansätze innerhalb dieser Literatur seien hier nur die Arbeiten von Maren Möhring und Bernd Wedemeyer-Kolwe erwähnt, die an gleicher Stelle von Jacob Tanner rezensiert wurden: Rezension von: Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930), Köln / Weimar / Wien 2004; Bernd Wedemeyer-Kolwe: "Der neue Mensch". Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], http://www.sehepunkte.de/2006/07/8023.html .

Michael Hau