Rezension über:

Frank Kreißler: Die Dominanz des Nahmarktes. Agrarwirtschaft, Handwerk und Gewerbe in den anhaltischen Städten im 15. und 16. Jahrhundert (= Studien zur Landesgeschichte; Bd. 13), Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2006, 464 S., ISBN 978-3-89812-249-8, EUR 36,00
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Rezension von:
Michael Scholz
Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Michael Scholz: Rezension von: Frank Kreißler: Die Dominanz des Nahmarktes. Agrarwirtschaft, Handwerk und Gewerbe in den anhaltischen Städten im 15. und 16. Jahrhundert, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/7022.html


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Frank Kreißler: Die Dominanz des Nahmarktes

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Das Gebiet des früheren Landes Anhalt stand bisher nicht im Mittelpunkt stadtgeschichtlicher Forschung. Mit Namen wie Dessau, Zerbst, Köthen oder Bernburg verbindet man für die Zeit des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ihre Funktion als Fürstensitz und ihre Entwicklung zur Residenz eines Kleinterritoriums, während die Bürgergemeinden nur wenig Beachtung fanden. Nahezu gänzlich unbeachtet blieben die Klein- und Kleinststädte im Streifen zwischen Fläming und Harz, die oft kaum die Schwelle vom Dorf zur städtischen Gemeinschaft überschritten hatten. Dieser Region, die nicht gerade eine zentrale Städtelandschaft des Reiches darstellte, aber in mancherlei Hinsicht doch als Normalfall gelten kann, wendet sich der Dessauer Stadtarchivar Frank Kreißler in seiner bei Werner Freitag in Halle angefertigten Dissertation zu. Erschwert wird dieses Unterfangen durch eine nicht als günstig zu bezeichnende Quellenlage, ging doch das Archiv der größten mittelalterlichen Stadt des Untersuchungsgebietes Zerbst zu einem erheblichen Teil bei der Zerstörung der Stadt im April 1945 verloren, ebenso wie die älteren Bestände des damaligen Staatsarchivs Zerbst große Verluste erlitten. Ohnehin bringt es die kleinstädtische Struktur Anhalts mit sich, dass die Überlieferung in vielen Orten erst verhältnismäßig spät einsetzt. Die Wahl des Untersuchungszeitraums war somit wesentlich von der Quellenlage bestimmt. Pragmatisch sinnvoll ist es zweifellos, das 16. Jahrhundert mit einzubeziehen, werden doch erst zu dieser Zeit in einigen Kleinstädten wirtschaftliche Strukturen überhaupt sichtbar.

Pragmatisch ist auch die Fragestellung der Arbeit. Kreißler geht es weniger darum, "die Auswirkungen [...] makrohistorische[r] Prozesse auf das Untersuchungsgebiet sichtbar zu machen" (13), auch Vergleiche mit Städten über dieses hinaus stehen nicht im Mittelpunkt. Seine Absicht ist es vielmehr, "die erreichbaren Daten und Informationen aus den verstreuten Quellen und aus der vorhandenen Literatur herauszufiltern und zu ordnen, ein dadurch sichtbar werdendes Bild der Agrarwirtschaft sowie des Handwerks in den einzelnen anhaltischen Städten zu zeichnen und die derartig beleuchteten Verhältnisse in Anhalt räumlich-zeitlich miteinander zu vergleichen" (12f.)

Aus diesem Ansatz folgt ein streng systematischer Aufbau der Arbeit. Nach einem einleitenden Kapitel, das die Entstehung und Entwicklung der anhaltischen Städte periodisiert, werden die einzelnen Wirtschaftszweige vorgestellt. Angesichts der in vielen Städten vorherrschenden ackerbürgerlichen Strukturen beginnt der Verfasser mit der städtischen Agrarwirtschaft, wendet sich dann dem Brauwesen zu, um schließlich die Nahrungsmittelgewerbe zu behandeln. Das übrige Handwerk und Gewerbe, von der Textilherstellung und -verarbeitung über das Leder-, Bau- und Metall verarbeitende Gewerbe bis hin zum Montanwesen, wird in einem größeren gemeinsamen Kapitel vorgestellt - auch ein Hinweis auf die Wertigkeit der einzelnen Erwerbszweige in den anhaltischen Städten. Ein eigenes Kapitel erhält schließlich noch die "Bierexport- und Gewerbestadt Zerbst" - als größere Mittelstadt die einzige Stadt des spätmittelalterlichen Anhalts, die auch durch ihre Rolle im europäischen Schlachtviehhandel überregional eine gewisse Bedeutung erlangte.

Eine wesentliche Rolle im Wirtschaftsleben der anhaltischen Städte, vor allem der Klein- und Minderstädte wie Lindau, Roßlau, Raguhn oder Jeßnitz, spielte der agrarische Sektor, was sich auch in der noch dörflich erscheinenden Differenzierung der Einwohner in Ackerleute und Kossäten erkennen lässt. Gärtnerische Sonderkulturen waren jedoch selten. Über die Eigenversorgung hinaus gingen lediglich der Gemüseanbau und der Handel mit Zwiebeln in Zerbst und dem unmittelbar nördlich davon gelegenen Flecken Ankuhn. Angesichts der klimatischen Verhältnisse, die sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch verschlechterten, war der Weinbau, obwohl in weiten Teilen des Landes betrieben, kein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Anders verhielt es sich mit dem Brauwesen, das - nicht nur in Anhalt - gerade als Kennzeichen eines städtischen Gemeinwesens galt und auch in den Minderstädten wesentlich das Wirtschaftsleben prägte. Allerdings konnte sich lediglich in Zerbst ein Exportgewerbe entwickeln; in den übrigen anhaltischen Städten blieb der Absatzmarkt auf die eigene Stadtbevölkerung und allenfalls das umliegende Landgebiet beschränkt - umso heftiger stritt man um Bannmeilen und Absatzprivilegien und suchte das eigene Absatzgebiet gegen Konkurrenz von außen zu verteidigen.

Die kleinstädtische Struktur des Untersuchungsgebietes brachte es mit sich, dass ein differenziertes Handwerk nur in Ausnahmefällen zu beobachten ist; stattdessen finden sich in vielen Siedlungen vor allem die Grundgewerbe, in der Hauptsache Bäcker und Fleischer, von denen sich erstere im späten 16. Jahrhundert in mehrere Teilhandwerke zu differenzieren begannen. Zur Lebensmittelversorgung trugen auch die Kleinhändler (Hocken) bei, die aber vom Verfasser nur kurz behandelt werden und in den Quellen anscheinend wenige Spuren hinterlassen haben. Zu den Grundgewerben zählten weiterhin Schneider und Schuhmacher, die sich in allen behandelten Städten finden. Eine ausgesprochene Textilregion war Anhalt nicht, obwohl die Tuchproduktion in Zerbst und insbesondere in Dessau bis ins 15. Jahrhundert sowie seit der Mitte des 16. Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung besaß. Doch handelte es sich nicht um Produkte von hoher Qualität, und so blieb der Absatz auf den lokalen und regionalen Markt beschränkt. Das Leder und Pelz verarbeitende Gewerbe fand einen Schwerpunkt in Köthen.

Während sich Maurer und die übrigen Baugewerbe verhältnismäßig selten in den Quellen finden, gehörten die metallverarbeitenden Handwerker, namentlich die Schmiede, in der agrarisch geprägten Städtelandschaft zu den Grundgewerben. Silberfunde in anhaltischen Harz führten seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu einem Aufschwung des Bergbaus, dem mehrere Kleinstädte ihre Privilegierung verdanken. Allerdings endete das "Bergwerksglück" bereits am Ende des 16. Jahrhunderts.

Betrachtet man die anhaltische Städtelandschaft im Ganzen, so fällt der Blick auf eine Wirtschaftsstruktur, die wenige Besonderheiten oder gar Spezialisierungen erkennen lässt - sieht man einmal vom Zerbster Bierexport ab. Charakteristisch ist in vielen Orten die Dominanz des Agrarsektors; der Fernhandel spielte - wiederum mit der Ausnahme Zerbst - so gut wie keine Rolle. Auch wenn gewisse gewerbliche Schwerpunkte wie die Textilproduktion in Dessau und Jeßnitz erkennbar sind, so produzierte man doch im wesentlichen für den regionalen Markt. Die Zielorte städtischer Boten aus Bernburg und Köthen zeigen, dass die Beziehungen in der Regel nicht über den engeren mitteldeutschen Raum hinauskamen - Magdeburg oder Leipzig waren schon verhältnismäßig weit entfernte Ziele. "Die ökonomische Kraft auch der größeren anhaltischen Städte war eher bescheiden." (273) Damit blieb den Städten nur die Konzentration auf das unmittelbare Umland - und so ist der Titel des Buches auch die zentrale These und Quintessenz der Ausführungen Kreißlers.

Auch wenn die Ergebnisse wenig spektakulär erschienen, hat der Verfasser doch für einen umgrenzten mitteldeutschen Raum Neuland betreten und seine Ergebnisse mit bewundernswerter Arbeitsleistung vor allem aus den archivalischen Quellen geschöpft. Dies zeigt nicht nur ein Blick auf das Quellenverzeichnis, sondern auch die Lektüre des Textes, der sich eng an den Quellen bewegt und eine Fülle von Beispielen aus diesen aufweist. 55 Tabellen im Text bieten gesicherte Daten beispielsweise zum Viehbestand, zum Bierkonsum, zu Preisen, zur Größe von Innungen und vielem mehr. Lässt diese Quellennähe zum einen die Überlieferungslage stets gut erkennen, so wirkt sie andererseits auf den Lesefluss gelegentlich störend. Der systematische Aufbau der Arbeit bringt es zudem mit sich, dass die Strukturen der einzelnen Städte sich dem Leser nur schwer erschließen. Möglicherweise hätte eine Einzelbetrachtung, wie sie für Zerbst vorgelegt wurde, auch für andere Städte weitere Besonderheiten erkennen lassen und den Blick für die Abhängigkeiten der Städte untereinander geschärft. So ist das Verhältnis des quasi vorstädtischen Fleckens Ankuhn zur Stadt Zerbst zwar an mehreren Stellen angesprochen, aber nicht abschließend geklärt.

Doch soll es bei diesen Einwänden bleiben. Auch ohne dass die Materie aufsehenerregende Ergebnisse erwarten ließ, hat Kreißler eine Arbeit vorgelegt, die in ihrer Solidität und in ihrem Materialreichtum unser Wissen über die (klein-)städtischen "Normalfälle" im Reich festigt und bereichert. Spätere Arbeiten werden auf seine Ergebnisse dankbar zurückgreifen.

Michael Scholz