Christiane Kuller: Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949-1975 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 67), München: Oldenbourg 2004, VII + 393 S., ISBN 978-3-486-56825-7, EUR 54,80
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Dürfen Mütter berufstätig sein? Wer hat darüber zu entscheiden? Ist dies Sache der Politik, fällt es gar unter die Aufgaben des Staates, Mütter daran zu hindern oder darin zu unterstützen, trotz kleiner Kinder täglich im Büro zu sitzen? Diese Themen sind im Frühjahr 2007 Gegenstand einer emotional geführten öffentlichen Debatte, in der es um mehr geht als um die Frage, ob die deutsche Gesellschaft ihren verbliebenen Familien eine größere Zahl von Krippenplätzen anbieten darf. Es geht um das Selbstbild dieser Gesellschaft, die sich in den letzten fünfzig Jahren merklich verändert hat und nun versucht, Wünsche und Notwendigkeiten, hergebrachte Normen und gegenwärtige Tatsachen zu neuen Leitbildern zu formen. Es geht um private Lebensentwürfe, um die Aufgaben und Möglichkeiten des deutschen Sozialstaats, und um den Zusammenhang zwischen beidem - um Familienpolitik.
Dies ist jedoch kein neues Thema: Seit ihren Anfängen in den 1950er-Jahren hat es die Familienpolitik der Bundesrepublik mit Kernbereichen gesellschaftlichen Lebens zu tun: Mit ihrem sozialstaatlichen Steuerungsanspruch rührt sie an Gesellschaftsbilder, Geschlechterrollen, Generationenbeziehungen und nicht zuletzt an das Verhältnis von Religion und Politik. So lässt sich anhand dieses Themas auch der gesellschaftliche und politische Wandel der Bundesrepublik bis zur Mitte der Siebzigerjahre wie im Längsschnitt aufzeigen - und zugleich auch die Schwierigkeiten des deutschen Sozialstaats, auf diesen zu reagieren.
Christiane Kullers ausgesprochen lesbares Buch, das auf ihrer Münchner Dissertation beruht, bietet in der Tat mehr als einen fundierten - und dringend benötigten - Beitrag zu den Hintergründen und der Vorgeschichte aktueller familienpolitischer Debatten: Es ist eine ausgezeichnete Studie über den komplexen Prozess der politischen Willensbildung im föderativen System der Bundesrepublik. Die Autorin versteht den Föderalismus als "Funktionsbedingung des deutschen Wohlfahrtsstaats" (25) und macht entsprechend die Wechselbeziehung zwischen Sozialstaatlichkeit und föderativer Ordnung zum Ansatzpunkt ihrer Studie. Das Zusammenspiel, aber auch die gegenseitigen Blockaden, von Bund und Ländern im Bereich der Sozialpolitik werden hier am Beispiel der Familienpolitik einmal gründlich durchgespielt. Auch dies ist ein Desiderat, da politikgeschichtliche Arbeiten nicht selten entweder nur von der Bundesebene her angelegt sind, oder aber sich ganz auf die regionale oder lokale Perspektive beschränken. Der föderative Sozialstaat, wie er sich in der Bundesrepublik Deutschland herausgebildet hat, wird jedoch in seinem Funktionieren nur vollends verständlich, wenn gerade das Zusammenspiel aller Ebenen betrachtet wird.
Gegenstand der Studie ist die Entwicklung der westdeutschen Familienpolitik zwischen 1949 und 1975, vor allem die Erweiterung des familienpolitischen Handlungsfeldes in den 1960er- und 1970er-Jahren. Aus einem zunächst disparaten und in verschiedenen Ressorts angesiedelten Politikfeld wurde unter dem Druck der sich wandelnden Strukturen allmählich ein eigenständiger Bereich, in dem jedoch verschiedene Akteure ihre jeweiligen Interessen verfolgen. Hatten die Zeitgenossen nach Kriegsende die Familie in einer tiefen Krise gesehen - hohe Ehescheidungszahlen, fehlende Männer und eine anfangs niedrig bleibende Geburtenrate - so schienen sich die Verhältnisse in den Fünfzigerjahren rasch zu normalisieren: die Väter ernährten die Familie, die Mütter blieben zu Hause und erzogen die Kinder. Der Staat hielt sich - in bewusster Abgrenzung von Nationalsozialismus und DDR - aus der Familie heraus. Familienpolitik in den Fünfzigerjahren, in der "Ära Wuermeling", beschränkte sich auf Lastenausgleichszahlungen: Kindergeld und Steuerfreibeträge.
Unterschwellig hatte jedoch bereits ein Strukturwandel begonnen, der in den Sechzigerjahren unübersehbar wurde: das Modell der arbeitsteiligen und hierarchisch geordneten Familie geriet in die Defensive. Dies wurde zum Politikum, denn der deutsche Sozialstaat war auf das Modell des lebenslang Vollzeit arbeitenden Familienvaters gegründet, von dem wiederum die sozialstaatliche Versorgung von Frauen und Kindern abgeleitet war. Scheidungen, Alleinerziehende, ja schon die wachsende Zahl von berufstätigen Müttern drohten das System zu sprengen. Hier zeigte sich, wie sehr sozialstaatliche Strukturen auf normative Leitbilder gegründet waren, die nun allmählich aber irreversibel ihre Gültigkeit verloren, allen voran das christlich geprägte Leitbild der Hausfrauenehe.
Dennoch bewegte sich der deutsche Sozialstaat kaum, reagierte nicht in angemessener Form auf das Ausmaß des Wandels: Dies ist der Befund, den zu erklären sich Christiane Kuller vorgenommen hat. Die Antwort findet sie in der wechselseitigen Verflechtung der verschiedenen Akteure und Ebenen, deren Komplexität ein gezieltes Reagieren der Politik auf strukturellen und ideellen Wandel erschwert und mitunter sogar selbst neue strukturelle Probleme geschaffen hat. Hierzu betrachtet sie Bund und Länder als Träger und Gestalter der Familienpolitik und fragt nach den Mechanismen der politischen Willensbildung in diesem Kräfteverhältnis. Sie untersucht die Einflussnahme der Länder und fragt danach, ob diese jeweils stärker von Landes- oder von Parteiinteressen motiviert war. Der Ländereinfluss auf die Familienpolitik wird jedoch erst dann im Ganzen sichtbar, wenn man dieses Politikfeld weiter fasst und über die finanziellen und rechtlichen Aspekte hinaus auch auf die Bereiche Bildung und Beratung blickt, die seit den 1960er-Jahren eine Rolle zu spielen begannen. Hierzu zählen neben der Eheberatung die Sexualaufklärung, das Müttergenesungswerk und die Schwangerschaftskonfliktberatung sowie die Kindergärten. Sie gehören zur Familienpolitik, involvieren aber die Länder, Kommunen und freien Wohlfahrtsträger in stärkerem Maße als den Bund und haben sich zudem erst seit dem Ende der Sechzigerjahre etabliert. Sie zielen auf die gesamte Familie, insbesondere auf Frauen und Kinder als Adressaten, und eben nicht mehr allein auf den Ernährer und Alleinverdiener, wie es der Familienlastenausgleich bis dahin getan hatte. Diese Verschiebung von der wirtschaftlichen Unterstützung hin zum Ausbau der Infrastruktur und der Förderangebote stellt zugleich eine Aufwertung der Länder als familienpolitische Akteure dar, denn diese Politikfelder fielen meist in deren Kompetenzen. Um die Verflechtung, die Bandbreite des Politikfeldes und dessen Wandel im Laufe des Untersuchungszeitraums angemessen fassen zu können, hat sich Kuller für eine Untersuchung dreier Fallbeispiele entschieden: den Familienlastenausgleich, die Familienbildung und -beratung und die Kindergärten. Für die Länderebene hat sie dabei jeweils Bayern als aussagekräftiges Einzelbeispiel herangezogen.
Die Entwicklung des Politikfeldes Familienpolitik stellt sich aus dieser Perspektive als mühsamer und vielschichtiger Prozess dar, in dem sich die Akteure aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten mitunter auch dann blockierten, wenn sie inhaltlich im Grunde einig waren. Bund und Länder stritten um ihren sozialpolitischen oder bildungspolitischen Einfluss, und innerhalb dieser Ebenen konkurrierten wiederum verschiedene Ressorts um die Zuständigkeit in familienpolitischen Belangen, so etwa in der Schwangerenkonfliktberatung das Gesundheits- und das Familienministerium sowie die freien Träger. Beim bayrischen Kindergartengesetz von 1972 erklärte Bayern gar die Kindergärten zu Bildungsinstitutionen, um so deren Verschulung vorzubeugen, die von der sozialliberalen Koalition im Bund betrieben wurde. Damit wurden zwar die Kindergärten zur Landessache, zugleich wurden sie innerhalb Bayerns aber aus dem familienpolitischen Ressort ausgegliedert, die Familienpolitik geschwächt. Im Ergebnis zeichnen sich die engen Wechselwirkungen zwischen föderaler Struktur und Familienpolitik ab, aber auch die "Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit der Familienpolitik" (346). Durch dieses Dickicht schlägt Christiane Kuller breite Schneisen, sodass zumindest die Rezensentin nun dem weiteren Verlauf der familienpolitischen Debatten besser informiert und gespannt entgegensieht.
Julia Angster