Marc Hieronimus: Krankheit und Tod 1918. Zum Umgang mit der Spanischen Grippe in Frankreich, England und dem Deutschen Reich, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006, 216 S., ISBN 978-3-8258-9988-2, EUR 29,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Sechster Band: 1916-1918. Hrsg. v. Günter Riederer unter Mitarbeit von Christoph Hilse, Stuttgart: Klett-Cotta 2006
Rainer Pöppinghege: Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Essen: Klartext 2006
Holger Afflerbach (Bearb.): Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr im Ersten Weltkrieg. Quellen aus der militärischen Umgebung des Kaisers 1914-1918, München: Oldenbourg 2005
In drei Wellen grassierte am Ende des Ersten Weltkrieges, zwischen den Frühjahren 1918 und 1919, weltweit eine Grippe-Epidemie, die bis heute als "Spanische Grippe" (Subtyp: H1N1) in Erinnerung geblieben ist. Ebenso vage wie die Kenntnisse um ihre, tatsächlich wohl asiatische Herkunft sind die um ihre Opferzahlen, die zwischen sechs und 40 Millionen schwanken. Manche Forscher gehen heute sogar von 100 Millionen aus. Angesichts der weltumspannenden Bedeutung ist es für den medizinischen Laien doch erstaunlich, wie sehr diese Krankheit im allgemeinhistorischen Dunkeln geblieben ist. Wäre da nicht die sich seit 2004 aus Südostasien bis nach Europa ausbreitende "Vogelgrippe" (Subtyp: H5N1), in deren katastrophenmedialer Flankierung die Spanische Grippe als Referenzereignis herangezogen wurde - das Bewusstsein um die Pandemie von 1918/19 wäre wohl noch geringer.
Marc Hieronimus hat sich in seiner von Jost Dülffer betreuten Kölner Dissertation diesem Thema gewidmet. Er stellt zunächst die Erträge der medizinhistorischen Forschung zur Spanischen Grippe vor, um dann international vergleichend die medizinischen, behördlichen und politischen Maßnahmen in Frankreich, Großbritannien und dem Deutschen Reich zu untersuchen; als lokale Fallstudien konzentriert er sich dabei auf die Großstädte Marseille, Manchester und Köln. Daran schließt sich eine auf diese drei Länder fokussierende Presseschau an, in der der Autor den "emotionalen Umgang" mit der Pandemie aufzuzeigen sucht. Ergänzt wird die Untersuchung durch einen knappen Exkurs zu den militärmedizinischen Maßnahmen.
Der internationale Vergleich drängt sich bei einer Pandemie, die ebenfalls keine Ländergrenzen kannte, geradezu auf und wird anhand der genannten Fallbeispiele auch weitgehend schlüssig durchgeführt. Im Hinblick auf den gesundheitsamtlichen Umgang mit der Krankheit wurden die engen Grenzen einer wirksamen medizinischen Behandlung der Krankheit offenbar. Gleichzeitig spiegelten sich darin auch die unterschiedlichen staatlichen Gesundheits- und Fürsorgesysteme unter den zusätzlich erschwerenden Bedingungen des Weltkrieges wider. Hieronimus kommt hier zu dem Schluss: "Stark verkürzt ließe sich sagen, Frankreich fehlten Ärzte und Medikamente, im Reich verhinderten Hunger und Revolution eine großangelegte Aktion gegen die Grippe. Und in England? 'Carry on' war hier die Devise." (111).
Beim Blick auf den "emotionalen Umgang" mit der Grippe fällt zunächst die Beschränkung in den Quellen auf. Im Mittelpunkt stehen Zeitungen und Publikumszeitschriften, medizinische Fachperiodika und zeitgenössische Ratgeberliteratur. Auf Egodokumente verzichtet der Autor, wobei seine Begründung nur teilweise überzeugen kann (18 f.). Natürlich unterlagen etwa Feldpostbriefe der Zensur, was die Aussagekraft auch im Hinblick auf etwaige Mitteilungen über die Grippe erschwert. Aber die selbst schon epidemisch zu bezeichnende neuere Forschungsliteratur zu genau diesem Thema bietet inzwischen sicher genügend Handreichungen zum Problem der Quellenkritik. Das eigentliche Problem gesteht der Autor dann auch selbst ein: den zweifellos hohen Arbeitsaufwand einer umfassenden Untersuchung von Brief- und Tagebuchquellen. Die Entscheidung zwischen Breite und Tiefe der Untersuchung fällt hier zugunsten der Breite. Für die deutsche und französische Presse stellt Hieronimus ein vergleichbares Muster der Berichterstattung fest: Am Anfang habe Ignoranz gegenüber dem Thema gestanden. Danach folgte ein eher humorvoller Umgang, den wiederum eine Phase beschwichtigender Berichterstattung ablöste. Schließlich sei die Presse angesichts des Ausmaßes der Epidemie auf eine angemessene Berichterstattung eingeschwenkt. Für Großbritannien dagegen sei eine von Beginn an zurückhaltendere und inhaltlich nüchterne Berichterstattung der Tagespresse zu beobachten gewesen. Haushalts- und Familienmagazine in allen drei Ländern hätten das Thema erstaunlich lange ausgeblendet; die christlichen und lebensreformerischen Blätter hätten mit ihren Beiträgen ihrem Klischee mitunter "bis zur Karikatur" entsprochen. Das Gesamturteil des Autors zur Relevanz der Medien als Quelle fällt dann auch entsprechend zurückhaltend aus. Eine über die geschilderte Phasenentwicklung hinausgehende Gesamtschau auf die Emotionen der Bevölkerungen und ihren alltagsgeschichtlichen Umgang mit der Spanischen Grippe vermag er so nicht zu liefern (175 f.).
Unbefriedigend bleibt die Untersuchung der Folgen der Grippe auf die Streitkräfte und den Verlauf der militärischen Operationen. Die historisch einzigartige, medizinische wie gesellschaftliche Dramatik der Spanischen Grippe von 1918/19 lag ja gerade in der Gleichzeitigkeit von Weltkrankheit und Weltkrieg. Die Pandemie ließ sich durchaus auch als Symptom des allseitigen Verfalls der Kampfkraft im industrialisierten Massenkrieg interpretieren, von kulturpessimistisch-apokalyptischen Deutungen einmal ganz abgesehen. Sehr viel konkreter - und bedeutsamer als im Buch dargestellt - scheinen aber die Folgen für die Kriegführung. Hieronimus beschränkt sich hier für das Reich weitgehend auf die Darstellung des amtlichen Heeressanitätsberichtes, nach dem es 1918 zu keiner "wesentlichen Schwächung der Kampfkraft" gekommen sei: "Kein Kriegshistoriker", führt er daraufhin an, "mißt [sic] der Grippe maßgebliche Bedeutung bei" (200). Das mag schon richtig sein, besagt aber nur, dass sich die Militärgeschichte bis heute noch nicht im Detail mit den Auswirkungen der Grippe an der Front befasst hat. Die Quellenlage ist dafür besser als man meint: So liegen für die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, die die Hauptlast der Operationen in der Grippesaison Frühjahr / Sommer 1918 trug, detaillierte Aufstellungen zu den Krankenständen und der Einschätzung der Kampfkraft vor, die das Bild einer Schattenarmee zeichnen. Auch mag es schon stimmen, dass Erich Ludendorff nach dem Krieg in seinen Erinnerungen der Grippe "kaum Bedeutung" zumaß (19). Eine tiefergehende Kenntnis der militärgeschichtlichen Quellen hätte aber aufzeigen können, dass der deutsche Generalissimus Ende September 1918 seine letzten Hoffnungen aber gerade an den Ausbruch einer Epidemie in Frankreich geknüpft hatte: "Wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert, klammere ich mich an diese Meldung." [1] Auch wenn der Quellenwert dieser Einlassung weitgehend ein atmosphärischer ist, so zeigt sich hier doch: Die Spanische Grippe war eben auch - vielleicht sogar: vor allem - ein militärischer Faktor, und zwar einer, über dessen tatsächliche Tragweite weiterhin große Unklarheit besteht. Genau diese Forschungslücke zu füllen, wäre doch eine interessante Aufgabe für den Autor des vorliegenden Bandes gewesen.
Von dieser Einschränkung abgesehen, bietet das Buch einen lesenswerten Einstieg in das Thema. Mit 220 Seiten fällt dieser Einstieg für eine deutsche Dissertation recht konzise aus. Dies ließe sich mit Hinweis auf die unbefriedigende Bearbeitung der militärischen Dimension der Spanischen Grippe kritisieren. Anderseits kann man heutzutage eigentlich nicht dankbar genug sein, wenn ein Doktorand, die Grenzen der Relevanz des eigenen Themas realistisch einschätzend, dieses zielgerichtet und informativ abhandelt, und nicht auf den inzwischen bald üblichen 500 Seiten letztlich unreflektiert bleibende Theoriehalden anhäuft, sich schriftstellerisch kapriziert, darüber den roten Faden verliert und so die Geduld seiner Prüfer, Leser und Rezensenten auf die Probe spannt. Hier bildet Marc Hieronimus eine positive Ausnahme. Was sich allerdings gänzlich dem Verständnis des Rezensenten verschließt, ist die Frage, warum ein Autor noch im Jahr 2006 ernsthaft an der alten Rechtschreibung festhält.
Anmerkungen:
[1] Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. Kriegsarchiv (München): Bestand Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bd. 80.
[2] Ludendorff selbst ging hier vom Ausbruch der Lungenpest aus. Tatsächlich handelte es sich aber wohl um die Grippe. Siehe Wolfgang Foerster: Der Feldherr Ludendorff im Unglück. Eine Studie über seine seelische Haltung in der Endphase des ersten Weltkrieges, Wiesbaden 1952, 86.
Markus Pöhlmann