Susanne Schönborn (Hg.): Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945. Mit einem Vorwort von Michael Brenner, München: Martin Meidenbauer 2006, 339 S., ISBN 978-3-89975-051-5, EUR 49,90
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Der von Susanne Schönborn herausgegebene Sammelband will die zahlreichen Forschungsarbeiten, die in den vergangenen Jahren zu den verschiedensten Themen der deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945 erschienen sind, in Zusammenfassungen vorstellen - ohne dabei jedoch den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Obwohl die Herausgeberin das Fachpublikum als Adressat des Bandes nennt, geben die meisten Beiträge durchaus auch für eine breitere Leserschaft erkenntnisreiche und interessante Einblicke in die Schwierigkeiten des deutsch-jüdischen Zusammenlebens und Dialogs und deren Ursachen. Der Psychoanalytikerin Charlotte Kahn etwa gelingt es in ihrem Beitrag, "Juden in Deutschland, deutsche Juden oder jüdische Deutsche?", eindrucksvoll, das Selbstverständnis von in Deutschland lebenden Juden und deren klischeehafte Wahrnehmung durch Nicht-Juden zu illustrieren. Der in weiten Kreisen etwa anzutreffenden Vorstellung, quasi die naturgemäße Heimat eines jeden Juden sei Israel, begegnete auch ein von Kahn zitierter, als Kind 1936 in die USA emigrierter und Jahrzehnte nach Kriegsende wieder in Deutschland lebender Wissenschaftler: "Ja, ich war mal in einem Hotel in Berlin [...] und dann musste ich auschecken und dann sagte ich zu dem Mann da, 'ich muss auch ein Taxi haben zum Flughafen.' Er sagt, 'Ja, wann kommen sie an in Tel Aviv?' Ich sagte, 'Ich will gar nicht nach Tel Aviv, ich fliege nach Amerika.' 'Ach so, New York.' 'Nein, ich wohne auch nicht in New York.' - Und dies ist sehr, sehr weit verbreitet, ist dann eben eine Stereotypie." (290)
Die 16 Aufsätze des vorliegenden Sammelbandes sind in fünf thematische Schwerpunkte gegliedert: In "Geschichte und Erinnerung" analysiert Laura Jockusch Rolle und Bedeutung der von ostjüdischen Displaced Persons unmittelbar nach der Befreiung ins Leben gerufenen Jüdischen historischen Kommissionen, die die Erforschung der Shoah aus der Perspektive der Opfer begründeten. In sogenannten DP-Lagern lebten in den ersten Nachkriegsjahren etwa 250 000 jüdische Displaced Persons in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, Österreichs und Italiens, wo sie auf eine Auswanderungsmöglichkeit warteten. Die Konflikte und Schwierigkeiten, die die Realisierung des Jüdischen Museums Berlin begleiteten und die in Anbetracht des gewaltigen Besucherinteresses nahezu in Vergessenheit geraten sind, in Erinnerung zu rufen, machte sich Katrin Pieper zur Aufgabe.
Im Themenkomplex "Organisationen und Personen" schildert Jay Howard Geller die Entstehung der wichtigsten jüdischen Institution in der Bundesrepublik, des "Zentralrats der Juden in Deutschland". In zwei biografischen Beiträgen zeichnen Nora Goldenbogen und Christoph Moß ein Bild von Leon Löwenkopf und Jakob Altmaier. Löwenkopf war der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Dresden nach der Befreiung und prägte bis zu seiner Flucht im Januar 1953 jüdisches Leben in der DDR maßgeblich. Moß konzentriert sich in seiner Biografie des jüdischen Sozialdemokraten Altmaier, der für seine Partei von 1949 bis 1963 im Deutschen Bundestag saß, auf die Frage, ob Altmaiers jüdisches Selbstverständnis sein politisches Engagement beeinflusste und sein Judentum andererseits zur Durchsetzung anderer Interessen instrumentalisiert wurde.
Im dritten Themenschwerpunkt "Politik" besticht vor allem der Beitrag von Shila Khasani zur Entstehung und zum Engagement der Frankfurter Jüdischen Gruppe. Die Instrumentalisierung der Kritik der jüdischen Linken am Sechs-Tage-Krieg 1967 und am Libanon-Feldzug 1982 durch die westdeutsche Linke, die Israel zur Projektionsfläche antisemitischer Vorurteile machte, hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren - im Gegenteil.
Unter dem Thema "Literatur" widmet sich Tamar Lewinsky der Entstehung des jiddischen Pressewesens nach der Befreiung, das im Wesentlichen von den osteuropäischen Juden geprägt war, die nach dem Krieg in zahlreichen DP-Lagern vor allem in der amerikanischen, aber auch in der britischen Besatzungszone Deutschlands und Österreichs lebten. Lewinsky geht der Frage nach, wie sich die Erfahrung des Holocaust und der unfreiwillige Aufenthalt im Land der Täter auf das kulturelle Selbstverständnis der jiddischen Schriftsteller auswirkten. Für Forscher und interessierte Leser sei angemerkt, dass die im New Yorker YIVO-Institut archivierten DP-Zeitungen auf Mikrofilm im Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin einzusehen sind. Gegenwartsliteratur und deutsch-jüdische bzw. russisch-jüdische Identitäten beschäftigen Susanne Düwell und Olaf Terpitz.
Die letzten vier Aufsätze sind unter dem Themenschwerpunkt "Identität" subsumiert. Thomas Pegelow schildert die Konflikte von Holocaustüberlebenden über rechtliche, religiöse und kulturelle Definitionen des Jüdisch- und Deutschjüdischseins mit den Alliierten, deutschen Behörden, aber auch mit jüdischen Organisationen, die in "Mischehe" lebende Juden zu benachteiligen versuchten. Dies war für die Betroffenen besonders schmerzhaft, weil viele ihrem nichtjüdischen Ehepartner das Überleben im Dritten Reich verdankten. Kurt Grünberg analysiert den "Trauma-Transfer", dem die Kinder von Holocaustüberlebenden besonders stark im Land der Täter ausgesetzt sind. Obwohl die jüdischen DP-Lager in Deutschland 1946 die höchste Geburtenrate aller jüdischen Gemeinden weltweit aufwiesen, stand die Frage, ob es im Land der Täter jüdische Kinder geben solle, stets im Raum. Die neue Generation sollte den Fortbestand jüdischen Lebens symbolisieren und wurde - bewusst oder unbewusst - oftmals als "Ersatz" für ermordete Familienmitglieder gesehen: "Diese Kinder sind in ihrem Leben auf spezifische Weise in einen elterlichen Verfolgungszusammenhang verstrickt, den sie selbst nie erleben mussten. Ohne jemals dort gewesen zu sein, ist Auschwitz gewissermaßen zum eigenen Ursprungsort geworden, auf den sie sich beziehen müssen, ob sie wollen oder nicht." (271).
Mit dem Beitrag von Yvonne Schütze zu Migration und Identität junger russischer Juden in Berlin, der auf einer Langzeitstudie basiert, schließt sich der Kreis zur Einleitung des Bandes, in der Michael Brenner die ostjüdische Einwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken als für das deutsch-jüdische Überleben "notwendige numerische Grundlage" bezeichnet. "Diese mit Inhalten zu füllen, die mehr sind als nur ein blindes Kopieren amerikanischer und israelischer Leitbilder, ist allerdings eine ungeheure Herausforderung an das 21. Jahrhundert", so Brenner (14).
Der Band bietet einen umfassenden Überblick zur aktuellen Forschungssituation zum Themenkomplex deutsch-jüdische Geschichte nach 1945. Vielen Beiträgen wünscht man keineswegs nur das Fachpublikum als Leser, sondern historisch und politisch Interessierte. Gerade die gewählte Form von kurzen, prägnanten Aufsätzen, die meist auf akademischen Qualifikationsarbeiten basieren, macht dies möglich.
Angelika Königseder