Rezension über:

Louise Foxcroft: The Making of Addiction. The 'Use and Abuse' of Opium in Nineteenth-Century Britain (= The History of Medicine in Context), Aldershot: Ashgate 2007, vii + 199 S., ISBN 978-0-7546-5633-3, GBP 55,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Susanne Hoffmann
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Hoffmann: Rezension von: Louise Foxcroft: The Making of Addiction. The 'Use and Abuse' of Opium in Nineteenth-Century Britain, Aldershot: Ashgate 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/12312.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Louise Foxcroft: The Making of Addiction

Textgröße: A A A

Paracelsus nannte es "Laudanum". Im 19. Jahrhundert schluckte, rauchte oder spritzte man "Morphium", "Godfrey's Cordial", "Black Drops", "Dover Powders", "Battley's Syrup" und später "Heroin". Lange Zeit galt das heute verruchte Opium als ein normales Schmerz-, Beruhigungs- und Genussmittel. "The making of addiction" - wie aus einer Gewohnheit eine behandlungsbedürftige Krankheit gemacht wurde, zeichnet Louise Foxcroft in ihrer wissenschaftshistorischen Studie nach. Zeitlich bleibt diese auf das 19. Jahrhundert begrenzt, räumlich auf Großbritannien und thematisch wird ausschließlich der Konsum von Opiaten betrachtet. Die Arbeit besteht aus zwei Abschnitten mit jeweils drei Kapiteln. Im ersten Abschnitt behandelt die Verfasserin die Kulturgeschichte der Opiumabhängigkeit in Großbritannien im 19. Jahrhundert, ihre Medizingeschichte im zweiten.

Foxcroft geht von der Annahme aus, dass zwei miteinander verbundene Wissensformen die Wahrnehmung des Opiumkonsums im 19. Jahrhundert bestimmt haben: das Erfahrungswissen von habitualisierten Nutzern zum einen, das Faktenwissen von Medizinern zum anderen. In der zweiten Jahrhunderthälfte sei es den Ärzten gelungen - getragen von Professionalisierung und disziplinärer Spezialisierung - ihre Deutungsmacht auszubauen und den gewohnheitsmäßigen Opiumgebrauch als "Abhängigkeit" beziehungsweise "Sucht" zu medikalisieren und zu pathologisieren. Doch habe es sich bei diesem Prozess, so Foxcroft, nicht um eine lineare, teleologische und dem wissenschaftlichen Fortschritt geschuldete Entwicklung gehandelt, sondern vielmehr um "the unpredictable development of a scientific fact" (6). Die Autorin grenzt sich damit von der älteren, mit paradigmatischen Wissenschaftskonzepten arbeitenden Opiumforschung ab (angelehnt etwa an Ludwik Fleck, Thomas Kuhn oder Bruno Latour). Foxcrofts zentrale These lautet dabei, dass auch mit der Medikalisierung des Opiumkonsums die subjektive und die wissenschaftliche Interpretationsebene eng aufeinander bezogen blieben: "Addiction was initially understood from a non-empirical, non-scientific viewpoint and ever later, after the mid-nineteenth-century epistemiological shift towards medicalisation of the condition, the concept was not based exclusively on pathological and physiological interpretation." (1).

Auf ein breites Spektrum an Quellen stützt sich Foxcroft im ersten Abschnitt "The cultural history of addiciton in nineteenth-century Britain". Publizierte Erfahrungsberichte, fiktionale Romanliteratur und tagesaktuelle Publizistik, mehrheitlich aus den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts, werden von der Autorin dahingehend befragt, wie chronische Opiumnutzer ihr Verhalten selbst sahen beziehungsweise wie man sie wahrnahm. Romantiker wie Thomas De Quincey oder Samuel Taylor Coleridge porträtierten ihren Opiumgenuss in den ersten Dekaden noch grundsätzlich positiv, da intellektuell stimulierend. Dieses Bild des Habitués habe sich, so argumentiert Foxcroft überzeugend, mit den Jahrzehnten radikal gewandelt. Denn nicht länger die Freuden, sondern vor allem die Leiden der Opiumabhängigen und ihrer Angehörigen seien später in das Blickfeld geraten. Der krankhafte Opiumkonsument sei schließlich für die Viktorianer zur Metapher für den Verfall schlechthin geworden - für den persönlichen, sozialen, kulturellen und insbesondere den nationalen. Erfreulicherweise ist mit den Selbstdeutungen zahlreicher Opiumkonsumenten die "Patienten"-Perspektive (im Sinne eines erweiterten Patientenbegriffs) in das Zentrum einer Arbeit gerückt, bei deren wissenschaftshistorischer Fragestellung man eher eine normative oder institutionelle Fokussierung erwarten würde. Damit führt Foxcroft erfolgreich einen sozialgeschichtlichen Ansatz in der Suchtgeschichte fort, wie ihn Berridge und Edwards erstmals 1981 mit ihrem "Opium and the people" [1] eingebracht haben. Als besonders fruchtbar erweist sich hierbei Foxcrofts heuristischer Suchtbegriff, der das Abhängigkeitsphänomen weitestgehend historisiert und nicht, wie in der älteren Forschung, primär als von der Substanz determiniert versteht.

Wie die verschiedenartigen Deutungsangebote des Opiumkonsums von all jenen Medizinern aufgegriffen worden sind, die sich während des 19. Jahrhunderts vermehrt mit Opium beschäftigten, erläutert Foxcroft im zweiten Abschnitt "The medical history of addiction in nineteenth-century Britain". Hierzu gehören die Forschungsaktivitäten von Pharmakologen und Toxikologen, die auf einmal die aktive (und in der Humoralpathologie unbekannte) patho-physiologische Wirkmacht des Opiums "entdeckten". Auch Ärzte - insbesondere Neurologen und Psychiater -, erklärten nun den habitualisierten Opiumkonsum nachdrücklich zu einer Nervenkrankheit und gleichzeitig zu einer nosologischen Einheit. An drei kanonischen Opiumtheorien aus dem späten 19. Jahrhundert (von einem Pathologen, einem Arzt und einem Sozialphilosophen) führt Foxcroft abschließend nochmals ihre These einer kulturell interdependenten Wissensproduktion aus. Der zweite Abschnitt des Buches basiert, anders als der erste, hauptsächlich auf normativen Quellen (auf medizinischer Fachliteratur, Dissertationen und Journalen). Leider geht Foxcrofts Darstellung des Opiumdiskurses hier inhaltlich kaum über frühere medizingeschichtliche Arbeiten hinaus. [2] Auch eine Verortung der englischen Debatte im internationalen Kontext bleibt aus.

Insgesamt liest sich Louise Foxcrofts Studie (auf 200 Seiten brutto) erfrischend knapp und pointiert; gleichzeitig argumentiert sie doch dicht am Quellenmaterial. Dass die Autorin gender-Aspekte in der Opiumdebatte regelmäßig aufgreift (etwa wenn es um die vermeintlich größere Suchtanfälligkeit des "schwächeren Geschlechts" geht), ist - neben der bereits genannten Patientenperspektive - ein weiterer Pluspunkt. Die konzeptuellen Mängel in der vorliegenden Arbeit sind daher umso bedauerlicher: Zum einen wäre eine stärkere methodische Reflexion der Korpusbildung wünschenswert gewesen, die für den Leser weitgehend intransparent und damit impressionistisch bleibt; möglicherweise hätten hier Anregungen aus der Historischen Diskursanalyse weitergeholfen. Schwerer wiegt jedoch, dass Foxcrofts Studie von vorn herein auf Opium beschränkt bleibt. Die zeitlich früher, aber inhaltlich parallel geführte Alkoholismusdebatte bleibt dadurch in der eigentlichen Argumentation konsequent ausgeblendet. Halbherzig und merkwürdig nachgeschoben mutet deshalb Foxcrofts zweiter Appendix an, in dem sie (auf viereinhalb Seiten) Analogien zwischen der Alkohol- und der Opiumdebatte aufzeigt. Ihren Anspruch, am Beispiel des Opiumkonsums "the making of addiction" im Großbritannien des 19. Jahrhunderts hinreichend erklären zu können, relativiert Foxcroft somit nachhaltig selbst.

Alles in allem leistet Louise Foxcrofts "The making of addiction" mit seiner akzentuierten Patienten- und Patientinnenperspektive einen wichtigen Beitrag für eine innovative Medizin- und Wissenschaftshistoriografie, obschon das Buch durch den gewählten Fokus auf Opium einiges an seinem Erkenntnispotenzial vergibt.


Anmerkungen:

[1] Virginia Berridge / Griffith Edwards: Opium and the people. Opiate use in nineteenth-century England, London / New York 1981.

[2] Vgl. beispielsweise Geoffrey Harding: Opiate addiction, morality and medicine. From moral illness to pathological disease, London 1988.

Susanne Hoffmann