Rezension über:

Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, 1064 S., 76 Abb., ISBN 978-3-8012-4164-3, EUR 48,00
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Rezension von:
Wolfram Pyta
Stuttgart
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Wolfram Pyta: Rezension von: Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/12613.html


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Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925

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Es hat lange gedauert, ehe die erste umfassende Studie über Friedrich Ebert erschienen ist. Walter Mühlhausen hat mit seiner voluminösen Arbeit endlich die schmerzliche Forschungslücke geschlossen. Er hat damit ein dringendes Desiderat der Weimar-Forschung eingelöst, die allzu lange nicht über eine quellengesättigte Untersuchung der Reichspräsidentschaft von Friedrich Ebert verfügte. Dieses Defizit ist nicht zuletzt der schwierigen Quellenlage geschuldet gewesen. Das bedeutet für den erneuten Anlauf, den Mühlhausen in diese Richtung unternimmt, dass er an entlegensten Stellen recherchieren musste, um die quellenmäßig fassbare Kenntnis über das Agieren Friedrich Eberts zu erweitern. Dies ist ihm musterhaft gelungen - er hat in jahrelanger Forschungsarbeit mit fast detektivischem Spürsinn so viel Material aufgespürt, dass seine Studie über den Reichspräsidenten Friedrich Ebert auf festem Grund steht. Dass der Mensch dabei im Hintergrund bleibt, ist also nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass selbst aus den von Mühlhausen zusammengetragenen Quellenzeugnissen die Person Ebert nur schemenhaft hervortritt. Daher darf man von dieser Studie keine sensationellen und noch nicht einmal überraschende Einblicke in die Persönlichkeit Eberts erwarten.

Mühlhausen hat eine Studie über den Reichspräsidenten geschrieben - nicht nur, weil Friedrich Ebert als politischer Akteur seit 1919 quellenmäßig wesentlich besser fassbar ist als in den Jahren seit der Geburt im Jahre 1871. Die Grundanlage seiner Studie läuft auf die Kernaussage hinaus, dass Ebert im Amt des überparteilich agierenden Staatsoberhaupts die eigentliche Erfüllung seiner politischen Laufbahn fand. Die These, dass sich Ebert tendenziell von seiner parteipolitischen Herkunft emanzipierte und sich ganz in den Dienst der Republik stellte, für die er sich aufopferte und verzehrte, ist nicht neu - aber keiner hat bislang diese These sorgsamer belegt und vor allen Dingen von den politischen Anfängen Eberts her stringenter entwickelt als Walter Mühlhausen. Dazu wählt er einen politikhistorischen Ansatz, der der Quellenlage angemessen ist. Die in der Theoriedebatte jüngst zu Recht eingeforderte intelligente Verknüpfung von Politik- und Kulturgeschichte kommt bei Ebert rasch an ihre Grenzen, weil die mageren Zeugnisse kaum substantiierte Aussagen etwa über die symbolpolitischen Dimensionen der Ebert'schen Politik zulassen.

Schon von seinen politischen Anfängen her erscheint Ebert als ein theoriefeindlicher Pragmatiker und Reformist, der sich stets als nüchterner Parteiarbeiter verstand und sich nie für Theoriedebatten zu begeistern vermochte. Eberts politisches Talent resultierte vor allen Dingen aus seiner Fähigkeit zu effizienter Organisation, die es ihm auch ermöglichte, das Innenleben der Sozialdemokratischen Partei genau kennenzulernen. Von innerparteilichen Theorieauseinandersetzungen kaum berührt, hat Ebert dem damals parteioffiziell verankerten Marxismus kaum mehr als Lippenbekenntnisse entgegengebracht, und auch sein Bekenntnis zum Internationalismus war eher verhalten. Schon der Vorkriegssozialdemokrat Ebert weist ausgesprochen nationale Züge auf - und von daher ergriff er mit vollem Herzen die Chance, mit der SPD im "Burgfrieden" des Ersten Weltkriegs aus der politischen Isolierung herauszufinden und mit den reformbereiten Kräften zu kooperieren. Der Sozialdemokrat Ebert war von dieser Position aus dafür prädestiniert, politische Brücken zum politischen Liberalismus und zum politischen Katholizismus zu schlagen. Ebert hat es nie lebensweltliche Überwindung gekostet, mit Politikern des liberalen und katholischen Lagers in gedeihlicher Eintracht zusammenzuarbeiten - auch hierin kommt nachdrücklich zum Ausdruck, dass Ebert nie ein Parteisoldat und Milieusozialist im engeren Sinne gewesen ist.

Mühlhausen bereichert die Ebert-Forschung auch noch dadurch, dass er konsequent einen zweiten Anker von Eberts Persönlichkeit und politischer Konzeption herausarbeitet: sein "ausgeprägtes Ordnungsdenken". Hier zeigt sich Ebert als ein Sozialdemokrat, der durchaus Hochachtung gegenüber den ordnungsstiftenden Funktionen eines Staatswesens empfindet und es als genuin sozialdemokratische Aufgabe ansieht, ein demokratisch legitimiertes Staatswesen funktionsfähig zu halten. Von daher kann es nicht verwundern, dass Ebert die Novemberrevolution von 1918 aus tiefstem Herzen ablehnte und alles daran setzte, einen geordneten Übergang zu demokratisch-parlamentarischen Verhältnissen einzuleiten. Folglich konnte Ebert weder die Revolution noch die Rätebewegung als legitimationsstiftend ansehen. Mühlhausen vermag hier einen wesentlichen Beitrag zu der in der Forschung bis heute umstrittenen Frage zu leisten, ob die Sozialdemokratie die ihr durch die Novemberrevolution zugefallenen politischen Handlungsspielräume nicht stärker hätte ausschöpfen sollen, um grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturveränderungen mit dem Ziel der Festigung der Demokratie in die Wege zu leiten. Der Verfasser stellt klar, dass ein derartiger Auftrag an die Revolutionsregierung, die sich nur auf ein revolutionäres, nicht aber auf ein parlamentarisch-demokratisches Mandat stützen konnte, für den "demokratischen Doktrinär" Ebert undenkbar war. Ebert dachte bereits als Führer der kurzfristigen Revolutionsregierung in parteiübergreifenden Kategorien. Er wollte nicht durch präjudizierende Entscheidungen eine Konfrontationspolitik mit den bürgerlichen Schichten einleiten, deren Mitarbeit am neuen demokratischen Staatswesen er so konsequent anstrebte.

Mühlhausen stellt weiterhin überzeugend heraus, wie sehr Ebert dabei auch von der Idee der "Volksgemeinschaft" geprägt war, die während des Ersten Weltkriegs einen partei- und lagerübergreifenden Auftrieb erfahren hatte. Hier schließt Mühlhausen an neuere Forschungen an, welche auf die politische Reichweite der Volksgemeinschaftsidee verweisen und kurzschlüssigen Interpretationen, welche diesen Terminus als Vorläufer der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie abtun wollen, eine klare Absage erteilen. Zum ersten Mal wird durch die Ausführungen Mühlhausens deutlich, wie tief der Volksgemeinschaftsgedanke auch bei einem dafür disponierten Sozialdemokraten Wurzeln geschlagen hatte. Ebert brauchte sich nicht zu verbiegen, sondern folgte hier nur seiner politischen Grundüberzeugung, wenn er in seiner Eigenschaft als Reichspräsident unablässig das deutsche Volk zu innerer Einheit aufrief, das Verbindende in den Vordergrund stellte und in diesem Kontext den Begriff "Volksgemeinschaft" als gesellschaftspolitische Leitvorstellung in den Vordergrund rückte.

Gemäß der Anlage der Studie gilt ihr Schwergewicht der Amtsführung Eberts als Reichspräsident. Minuziös zeichnet Mühlhausen die politischen Aktivitäten Eberts auf den verschiedenen Politikfeldern nach und wirft in jedem Einzelfall die Frage auf, inwieweit der Reichspräsident dabei seinen Stempel aufzudrücken vermochte. Mühlhausen porträtiert Ebert als einen überaus gestaltungsfreudigen Reichspräsidenten, der von den verfassungsmäßig verbürgten Möglichkeiten seines Amtes energisch Gebrauch machte und seine Kompetenzen ausschöpfte. Damit steht sein Zugriff in Einklang mit der jüngst nachhaltig betonten Forschungsposition, welche die präsidiale Komponente der Weimarer Verfassung herausgestrichen hat. Der Weimarer Republik wohnte von Anfang an ein starker präsidialer Faktor inne - und Ebert wirkte als erster Reichspräsident hier stilbildend.

Insbesondere am Einwirken des Reichspräsidenten auf die Regierungsbildungen lässt sich der Gestaltungsspielraum der Präsidialgewalt ablesen - und daher gibt Mühlhausen diesem Komplex in seiner chronologisch angeordneten Darstellung eine herausragende systematische Bedeutung. Im Laufe der Zeit kristallisierte sich ein Interaktionsgeflecht zwischen dem Reichspräsidenten und den im Reichstag vertretenen Parteien heraus, das dem Reichspräsidenten dann eine Prärogative bei der Regierungsbildung zuwies, wenn die Parteien von sich aus keine Initiative zeigten. Besonders markant sticht dies bei der Nominierung des Wirtschaftsführers Wilhelm Cuno zum Reichskanzler im November 1922 ins Auge: Cuno war allein die Wahl Eberts, der den Reichstag, ohne die Parteien vorher zu konsultieren, mit seiner Personalentscheidung konfrontierte. Mühlhausen wertet dies zu Recht als "einen Vorgeschmack auf eine präsidentielle Regierungsbildung". Allerdings waren dem Einfluss des Reichspräsidenten Grenzen gesetzt, wenn die Parteien aus sich heraus eine Regierungsbildung anstrebten und dem Reichspräsidenten dafür eine bestimmte Parteienkonstellation samt der dazugehörigen Personallisten präsentierten. In solchen Fällen blieb dem Reichspräsidenten Ebert kaum mehr übrig, als diesen Akt gewissermaßen notariell zu beglaubigen.

Insgesamt fanden Reichspräsident und Reichstag im Laufe der Zeit zu einem durchaus harmonischen modus vivendi. Die beiderseitigen Interessen an einem kraftvollen Regieren verbanden sich speziell in der Existenzkrise der Weimarer Republik im Jahre 1923, als durch die französische und belgische Besetzung des Ruhrgebietes das Reich an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs geriet und durch separatistische Bewegungen die Einheit des Reiches ernsthaft gefährdet war. In dieser Notsituation machte Ebert energisch vom Artikel 48 der Reichsverfassung Gebrauch - allerdings immer im Einklang mit dem Willen der Reichstagmehrheit, sodass - worauf Mühlhausen zu Recht hinweist - zwischen der Handhabung von Artikel 48 durch Ebert und dem Gebrauch dieser Verfassungsbestimmung durch seinen Amtsnachfolger Hindenburg ein eindeutiger qualitativer Unterschied besteht. Im Unterschied zu Hindenburg fehlte Ebert bei der Anwendung dieser stärksten Verfassungsbestimmung jede antiparlamentarische Spitze.

Zu den bislang wenig beachteten Politikfeldern, in denen Ebert eigene Akzente setzen wollte, gehört die Außenpolitik. Hier bestand der Einfluss des Reichspräsidenten zum einen in der Besetzung von Botschafterposten auf diplomatischen Schlüsselpositionen, zum anderen in der Auswahl des politischen Personals (Reichskanzler, Reichsaußenminister), welches eine bestimmte außenpolitische Grundausrichtung verkörperte. Mühlhausen gelingt es, die außenpolitischen Grundansichten Friedrich Eberts deutlicher als bislang herauszustreichen. Ebert erscheint so als ein kulturell und politisch im Westen verwurzelter politischer Akteur, der durch Personalentscheidungen vor allen Dingen die Beziehungen zu den USA pflegen und ausbauen wollte, denen er besonders bei der Lösung der Reparationsfrage eine Schlüsselrolle attestierte. Zum ersten Mal macht Mühlhausen deutlich, dass die - die bisherige Forschung irritierende - Berufung des politischen Außenseiters und Vorstandsvorsitzenden einer großen Reederei, Wilhelm Cuno, von außenpolitischen Interessen des Reichspräsidenten diktiert war, der in Cuno vor allen Dingen einen Verbindungsmann zu den USA erblickte.

Dieser festen Verankerung im Westen korrespondierte eine noch entschiedenere Skepsis gegenüber der kommunistischen Sowjetunion. Die Ebert-Forschung hatte bislang durchaus registriert, wie sehr Ebert von dem von seinem Außenminister Rathenau und vor allen Dingen von Reichskanzler Wirth eingefädelten Vertrag mit der Sowjetunion (Rapallo-Vertrag) befremdet war - nun werden erstmalig die politischen Hintergründe dieser Haltung Eberts deutlich. Mühlhausen porträtiert Ebert als einen entschiedenen Antibolschewisten, der den kommunistischen Weg der Diktatur des Proletariats aus tiefstem Herzen ablehnte. Im deutschen Ableger der kommunistischen Weltbewegung, der KPD, erblickte Ebert deswegen einen politischen Akteur, der außerhalb des Spektrums der demokratischen Parteien stand. Zum anderen hatte Ebert am eigenen Leib die Folgen des kommunistischen Januar-Aufstands von 1919 spüren müssen, der ihm nachdrücklich vor Augen geführt hatte, dass eine entschlossene Minderheit - ähnlich wie bei der sogenannten Oktober-Revolution in Russland - politische Macht an sich reißen konnte. Für Ebert blieb die KPD ebenso ein deutscher Ableger der kommunistischen Weltbewegung, wie die Sowjetunion für ihn den Hort der Weltrevolution darstellte.

Wenn das abgegriffene Prädikat Standardwerk einen Sinn hat, dann in Bezug auf das opus magnum Mühlhausens. Es ist schwer vorstellbar, dass diese überaus gründliche und inhaltlich stringent komponierte Studie in Zukunft übertroffen werden kann. Sie untermauert in manchmal sehr detailfreudiger Weise die Grundeinschätzung der bisherigen Forschung und fügt diesem Bild noch einige neue Facetten hinzu. Nach dem Studium dieser Schrift wird man noch nachhaltiger als zuvor die Auffassung vertreten können, dass Friedrich Ebert seinem Amt staatsmännische Statur verliehen hat - und welch ein unersetzlicher Verlust für die Republik sein frühes Hinscheiden bedeutete.

Wolfram Pyta