Burkhard Olschowsky: Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen 1980-1989 (= Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V.; Bd. 7), Osnabrück: fibre Verlag 2005, 690 S., ISBN 978-3-929759-94-5, EUR 32,50
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Dass innerhalb des sozialistischen Staatensystems zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen ein spezielles Verhältnis bestanden habe, ist zu Recht die allgemeine Meinung in der einschlägigen Literatur. Der zwingende Beweis, der nur aus einem umfassenden Vergleich mit allen infrage kommenden Staaten hervorgehen könnte, ist allerdings noch nicht erbracht worden, und er dürfte wohl noch geraume Zeit auf sich warten lassen. Denn die Forschungen zu diesen Staaten insgesamt reichen bei Weitem noch nicht aus, um ein solches Unterfangen angehen zu können.
Polen hatte sich nicht nur seinen nationalen Bestand unter größten Opfern erkämpfen müssen, sondern war, territorial verkleinert, nach Westen verschoben worden und hatte damit weitere schwere Hypotheken aufgeladen bekommen. Tonangebende und kontrollierende Garantiemacht der Umgestaltung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion. Die DDR war als deutscher Teilstaat ein nationales wie territoriales Kunstprodukt und schon deswegen in besonderem Maße von ihrer Schöpfer- und Patronagemacht Sowjetunion abhängig. Zugleich oblag ihr als Frontstaat des politisch-ideologischen Systems wie auch in der nationalpolitischen Auseinandersetzung mit dem westlichen deutschen Staat eine außerordentlich schwierige und problematische Aufgabe, aus der sie ihrerseits den Anspruch auf eine Sonderrolle ableitete. Beide Staaten hatten mit ihren jeweils eigenen Paradoxien und Besonderheiten fertig zu werden. Gemeinsam waren ihnen ideologische und institutionelle Vorgaben seitens der sowjetischen Vor- und Kontrollmacht. Verbunden waren sie durch die erzwungene Zuordnung zu demselben wirtschaftlichen, militärischen und politischen Bündnissystem und weltpolitischen Lager, innerhalb deren sie sich mit ihrer wechselseitigen Abneigung, ihrem Misstrauen, ihren unterschiedlichen Traditionen und Zielsetzungen irgendwie arrangieren mussten. Sie hatten beide die Sowjetunion einerseits und die Bundesrepublik Deutschland andererseits als zwar unterschiedliche, aber wesentliche Größen einzukalkulieren. Für Polen kamen jedoch zwei zusätzliche äußere Bezugsgrößen hinzu: der Papst als religiöses Oberhaupt der polnischen katholischen Kirche, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der polnischen Ethnie und Nation nahezu identisch war, und die USA als die Weltmacht, zu der eine traditionelle enge Beziehung bestand (und besteht).
Dieses Geflecht vielschichtiger und hintergründiger Nachbarschaftsverhältnisse wird in dem vorliegenden Buch auseinandergefaltet und in einer so übersichtlichen und sehr gut nachvollziehbaren wie engagierten Weise dargestellt. Begründete Meinungen und klare Urteile ergeben ein sicheres Geländer, an dem sich der Leser entlang arbeiten und auch seine eigenen Ansichten entwickeln kann. Nach einem einleitenden Rückblick auf die 1970er-Jahre geht es um das letzte Jahrzehnt Polens als Volksrepublik und der DDR überhaupt. Vieles davon ist bekannt, zum Teil auch in derselben Buchreihe publiziert. Hier hat sich aber ein Historiker ans Werk gemacht, der neben den deutschen Publikationen und Quellen gleichermaßen polnische herangezogen hat und auf diese Weise mit ausgewogen wechselnder Perspektive beide Seiten gleichgewichtig in Erscheinung treten lässt. Dadurch erreicht er an vielen Stellen eine bemerkenswerte Tiefe des Einblicks und Intensität der Deutung, und zwar gerade dort, wo es um den Vergleich zwischen den beiden Staaten geht.
Das umfängliche, dabei recht gut lesbare Buch ist, dem Gang der Ereignisse folgend, in sechs chronologische Abschnitte gegliedert. 1. Für die Jahre 1980-1981 ("Die Monate der Solidarność") werden die Auseinandersetzungen zwischen der Gewerkschaftsbewegung mit der Partei und dem Staat behandelt, weiterhin die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzeptionen, die außenpolitischen Aspekte von der Gefahr einer militärischen Intervention bis zur Reaktion in der DDR und der Bundesrepublik auf die polnischen Ereignisse. Beeindruckend ist der Vergleich zwischen den Werktätigen beider Länder: In der DDR eine eher passive, die Verhältnisse als gegeben hinnehmende Haltung, die aus einer sozialen Beruhigung seit dem Mauerbau resultierte. In Polen dagegen die Solidarność als eine Mischung aus Fortsetzung des permanenten Freiheitskampfes und der großen nationalen Aufstände sowie einer sozialen Revolution, getragen von einem nationalgesellschaftlichen Katholizismus, der man in der DDR verständnislos gegenüber stand.
2. Der Abschnitt über die "Zeit des Kriegsrechtes (1982-1983)" reicht von den Bemühungen der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), Staat und Wirtschaft wieder zu effizienter Tätigkeit zu bringen und die Gesellschaft in den Griff zu kriegen, über die Reaktionen in der DDR wie auch der Schriftsteller in beiden deutschen Staaten, bis zur Einschätzung des Kriegsrechtes in Ost und West. Die Rolle und Motive Jaruzelskis bei der Einführung des Kriegsrechts erfahren eine behutsame Beurteilung, die aber klar genug ausfällt, um die Berechtigung der kürzlich gegen ihn erhobenen Anklage infrage zu stellen.
3. In der "Zeit der 'Normalisierung'" (1984-1985) stehen die Kirchen im Mittelpunkt, ihre Rolle in Staat und Gesellschaft sowie die komplizierten Beziehungen zwischen der protestantischen Kirche in der DDR und einer katholischen Kirche Polens, die, nicht zuletzt dank des polnischen Papstes, über mehr nationale Autorität und Legitimation verfügte als die politische Führung.
4. Die "Zeit der Stagnation" (1986) ließ angesichts der Frage nach der künftigen Entwicklung nach der scheinbaren Konsolidierung der vergangenen zwei Jahre die völlig unterschiedlichen Ansätze des Herrschaftsanspruchs der PVAP und der SED noch deutlicher als bisher hervortreten. Setzte die SED - "Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns" - auf straffe Disziplin, bewusstseinsverändernde Indoktrination und innenpolitischen Druck, sah sich die PVAP als nationale Bewegung und "Dienerin" der Arbeiterklasse, die innerhalb der vertretbaren Grenzen differierende Standpunkte akzeptierte.
5. Die "Zeit der Perestroika" (1987) warf Fragen nationalen Selbstverständnisses und ideologisch-politischer Legitimation in bisher ungekannter Schärfe auf. Die von der ostmitteleuropäischen Intelligenz aufgegriffene und erneut zur Diskussion gestellte "Mitteleuropa"-Idee ließ auch die "deutsche Frage" in einem veränderten Licht erscheinen, Die scharfen Grenzen erschienen angesichts der Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte und Kultur nun zumindest intellektuell überspringbar.
6. Die Jahre 1988-1989 führten in dem elastischer regierenden und agierenden Polen zum "Runden Tisch", der die Unterordnung der Politik unter eine überprüfende Gesetzlichkeit fortführte, die schon Jahre vorher mit der Einführung eines unabhängigen Verfassungsgerichtes eingesetzt hatte. Der Staat der SED hingegen zerbrach nicht nur an seiner mangelnden nationalen Legitimation, sondern zunächst an der Starrheit und realitätsfernen Überheblichkeit seiner politischen Klasse.
Was hier referiert werden konnte, ist nur, aufs Knappste reduziert, ein roter Faden, der sich durch dieses viel material- und gedankenreichere Buch zieht. Eingestreute Begriffsdefinitionen tragen ebenso zur Orientierung des Lesers bei wie die prägnanten Zusammenfassungen am Ende eines jeden Abschnitts. Man mag über etliche Fragen anders denken oder noch nicht abschließend urteilen wollen, an diesem Buch, das eine solide und anregende Ausgangsbasis für die weitere Forschung bietet, wird man nicht vorbeigehen können.
Hans Hecker