Dieter Deiseroth (Hg.): Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, Berlin: Verlagsgesellschaft Tischler 2006, 380 S., ISBN 978-3-922654-65-0, EUR 24,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Robert E. McGlone: John Brown's War against Slavery, Cambridge: Cambridge University Press 2009
W. Jason Wallace: Catholics, Slaveholders, and the Dilemma of American Evangelicalism, 1835-1860, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press 2010
Klaus P. Fischer: Hitler & America, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2011
Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin. Man könnte meinen, er habe nie aufgehört zu brennen. Die Debatte um die Täterschaft beim Reichstagsbrand hat schon längst die Rolle eines Schwelbrandes in der deutschen Historiker-Landschaft angenommen, der immer wieder aufflackert und die Gemüter entzündet. Der Fall des Eisernen Vorhangs und die Neunzigerjahre brachten neue Bewegung in die festgefahrene Diskussion der emotionalisierten Lager der Alleintäter-These (Fritz Tobias, Hans Mommsen) und ihrer Gegner (Luxemburger Komitee). Im Reichstagsbrandprozess wurde festgestellt, dass Marinus van der Lubbe den Brand nicht allein gelegt haben konnte. [1] Allerdings sah das Gericht die Täter, obwohl die mit van der Lubbe Angeklagten (Ernst Torgler und die Bulgaren Georgi Dimitroff, Blagoi Popow und Wassil Tanew) aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden mussten, weiterhin unter den Kommunisten. Im In- und Ausland vermutete man die Nationalsozialisten hinter dem Brandschlag; zu geschickt verstanden sie ihn für ihre Zwecke zu nutzen: Die Reichstagsbrandverordnung wurde zur "Verfassungsurkunde des Dritten Reichs" (36). [2]
Dieter Deiseroth will mit seinem Sammelband "Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht" "verschollen geglaubte Beweismittel" und "neue Tatsachen" (9 f.) präsentieren, um so die Frage zu klären, wieso die "wirklichen Täter und ihre Hintermänner" (10) nie ermittelt und überführt wurden. Der Herausgeber bezieht klare Stellung gegen die Alleintäter-These von Mommsen und Tobias, möchte aber bewusst nicht zum Streit in der Zunft beitragen. Er bezeichnet es sogar als "reizvoll [...], wenn Fritz Tobias und Hans Mommsen unmittelbar auf diese Beiträge repliziert hätten" (16), diese entschieden sich jedoch dagegen. So kommen hauptsächlich Kritiker der Alleintäter-These zu Wort: Hermann Graml ("Zur Debatte über den Reichstagsbrand") vom Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ) bezweifelt die Alleintäterschaft van der Lubbes, hält es aber mit Bezug auf die Goebbels-Tagebücher für falsch, anzunehmen, dass die Nationalsozialisten für den Anschlag verantwortlich seien. Ingo Müller ("Der Reichstagsbrand-Prozess vor dem Reichsgericht") und Dieter Deiseroth ("Der Reichstagsbrand: Prozess und Rechtsstaat") hingegen wenden sich gegen den raschen Ausschluss dieser These und werfen den Richtern des Reichsgerichts Voreingenommenheit vor. Hersch Fischler ("Neues zur Reichstagsbrandkontroverse") geht einen Schritt weiter und behauptet, die Forcierung der Alleintäter-These sei sowohl Selbstschutz einiger Akteure vor einer möglichen Anklage wegen Justizmordes als auch der Versuch der Verhinderung eines Skandals in der jungen Bundesrepublik, da einige hohe Beamte 1933 vor dem Reichsgericht falsch ausgesagt hätten. Bei Alexander Bahar ("Die Nazis und der Reichstagsbrand") profitieren die Nationalsozialisten nicht nur vom Reichstagsbrand, sondern haben ihn auch selbst gelegt. Abschließend analysiert Reinhard Stachwitz ("Der Reichstagsbrand in aktuellen Schulbüchern") die Darstellung der Ereignisse vom 27. Februar 1933 in aktuellen Schulbüchern.
"Cui Bono?" (31, 148) - Ingo Müller betont die schnelle Reaktion der Nationalsozialisten, ihre gute Vorbereitung sowie die Bedeutung des Reichtags-Coups im Zusammenhang mit der Reichstagsbrandverordnung und dem folgenden Ermächtigungsgesetz. Indizien wie die Verhaftungswellen "nach vorbereiteten Listen" (36) wertet er, ähnlich wie bereits Jürgen Schmädeke [3], als Beleg für die Täterschaft der Nazis. Alexander Bahar vertieft dies in seinem Beitrag, der die Ergebnisse zusammenfasst, die er bereits zusammen mit Wilfried Kugel in "Der Reichstagsbrand / Wie Geschichte gemacht wird" [4] publiziert hat. Ausgehend von der These, dass die Nationalsozialisten ohne den Reichstagsbrand die Wahlen vom März 1933 verloren hätten, stellt er den Brandanschlag als propagandistische Notwendigkeit dar (151) und liefert Indizien, dass er von Goebbels geplant und von der SA vorbereitet und durchgeführt worden war. Van der Lubbe sei möglicherweise nur passiver Strohmann gewesen (156 f.). Weiterhin analysiert er die "Spiegel"-Serie zum Reichstagsbrand sowie die Rolle von Verfassungsschützer Fritz Tobias und dem ehemaligen Pressechef des NS-Außenministeriums Paul Karl Schmidt (alias Paul Carell) bei der Nichtveröffentlichung von Hans Schneiders Manuskript zur Widerlegung der Alleintäter-These von 1962 durch das IfZ auf Anraten Hans Mommsens. Ärgerlich an Bahars Darstellung ist, dass er in seiner Schlussbemerkung den völlig unangebrachten Vergleich zwischen dem Reichstagsbrand und den fingierten Beweisen der Bush-Administration für Massenvernichtungswaffen im Irak zieht.
Detaillierter als Bahar geht Hersch Fischler den Verstrickungen von Fritz Tobias nach. Sein Beitrag, der sich wie ein Politkrimi der jungen Bundesrepublik liest, allerdings mit einem bereits 2004 veröffentlichten Aufsatz weitgehend identisch ist [5], fragt nicht so sehr, wem der Brand genützt habe, als zu wessen Vorteil die Alleintäter-These aufrecht erhalten werden sollte. Tobias nutzte laut Fischler seine Stellung beim Verfassungsschutz, um Helmut Krausnick, den damaligen Leiter des IfZ, mit dessen nicht öffentlich bekannter NSDAP-Mitgliedschaft unter Druck zu setzen. Infolgedessen sei die Kritik Hans Schneiders an Tobias' These nicht veröffentlicht worden (135 f.). Schneiders Manuskript habe offengelegt, dass hohe Beamte, zuständig für die innere Sicherheit der Bundesrepublik, 1933 im Reichstagsbrandprozess gelogen und in den 1950er-Jahren daran mitgewirkt hätten, Ermittlungen zum Reichstagsbrand zu manipulieren. Dies wiederum habe Hans Mommsen dazu veranlasst, dem IfZ zu raten, das Manuskript nicht zu publizieren, da dies "aus allgemein politischen Gründen" nicht wünschenswert sei (133). Auf die Begründung des IfZ, dass Schneiders Werk unvollständig und er mit der Fertigstellung wiederholt in Verzug gewesen sei, geht Fischler nicht angemessen ein. Dieter Deiseroth schließlich analysiert die bereits 1933 erfolgten Manipulationen durch die geschickte Auswahl des Untersuchungsrichters, die "a-demokratische Grundeinstellung" (73) der Richter und die kontinuierliche Einmischung der Exekutive.
Der Band fasst die Diskussion der letzten Jahre zusammen. Wirklich neue Erkenntnisse liefert er aber nicht. Zu den neuen Tatsachen zählt der Herausgeber z. B. die Erstveröffentlichung des "vollen Wortlautes des Urteils des Reichsgerichts", der bisher "weder in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt) noch in einer anderen Fachpublikation" (13) zugänglich gewesen sei. Hier aber irrt Deiseroth: Bereits 1994 wurden sowohl die Anklageschrift als auch das Urteil aus dem Reichstagsbrandprozess von Jürgen Zarusky und Hartmut Mehringer in der Mikrofiche-Edition "Widerstand als 'Hochverrat' 1933-1945 / Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht" publiziert. Ebenso finden sich die meisten der Thesen und Argumente bereits in verschiedenen Publikationen der Autoren des Sammelbandes während der letzten Jahre. Auch die Frage der Täterschaft bleibt trotz der vorliegenden Indizien weiterhin offen. Ebenso offen ist die Frage nach dem Ende der emotional aufgeladenen Diskussion. Bahars Aussage, die "Beweiskraft" seiner Argumente erschließe sich "freilich nur demjenigen, der [...] sich nicht von dem seit ca. 1949 durch ehemalige Gestapo-Mitarbeiter, den bundesdeutschen Verfassungsschutz und den 'Spiegel' systematisch ausgebreiteten Gespinst von Halbwahrheiten, Fehlinformationen, Manipulationen und schlichten Lügen einschüchtern lässt" (159 f.), klingt nicht so, als wäre der Schwelbrand gelöscht, sondern es wird eher noch Öl ins Feuer gegossen. Anhäufungen von Indizien reichen freilich nicht aus, um die teilweise berechtigten Zweifel an der gängigen Lehrmeinung, die "mit hinreichender Klarheit [von] der Alleintäterschaft van der Lubbes" ausgeht [6], zu erhärten. Vor allem aber verhindern Verschwörungstheorien jegliche konstruktive Debatte.
Anmerkungen:
[1] Die Gutachter des Gerichts, Prof. Josse (Wärmetechniker), Dr. Ing. Wagner (Branddirektor) und Dr. Schatz (Chemiker) waren der einhelligen Meinung, dass van der Lubbe den Brand nicht allein gelegt haben konnte; vgl. hierzu: Hersch Fischler: Zum Zeitablauf der Reichstagsbrandstiftung, in: VfZ 53 (2005), 617-632.
[2] Ernst Fraenkel bezeichnete bereits 1941 die Reichstagsbrandverordnung als "constitutional charter", vgl. Ernst Fraenkel: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941, 3.
[3] Jürgen Schmädeke (u.a.): Der Reichstagsbrand in neuem Licht, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), 603-661.
[4] Alexander Bahar / Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, Berlin 2001.
[5] Hersch Fischler: Hans Schneiders unvollendetes Manuskript "Neues vom Reichstagsbrand?" Ein unbequemer Forschungsbericht und seine Unterdrückung im Münchener Institut für Zeitgeschichte, in: Hans Schneider: Neues vom Reichstagsbrand? Eine Dokumentation, Berlin 2004, 37-52.
[6] Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4, München 2003, 604.
John Andreas Fuchs