Marvine Howe: Morocco. The Islamist Awakening and Other Challenges, Oxford: Oxford University Press 2005, XI + 428 S., ISBN 978-0-19-516963-8, GBP 9,99
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Gleich nach seiner Inthronisierung im Jahre 1999 gab Mohammed VI. von Marokko eindeutige Signale, einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen und auf diese Weise den Beginn einer neuen Ära einzuleiten. So löste er zum einen den Harem seines verstorbenen Vaters auf und entließ zum anderen den Innenminister Driss Basri, also den mächtigsten Mann des früheren Regimes. 2002 heiratete der neue Herrscher dann Salma Bennani, eine vierundzwanzigjährige Informatikerin, die in die Geschichte Marokkos als die erste öffentlich vorgestellte First Lady einging. Ein Jahr später stellten die Terroranschläge in Casablanca und Rabat den schönen Traum einer rosigen Zukunft in Frage. Sie führten den Marokkanern und der Welt mit ihren mörderischen Aktionen die Zerbrechlichkeit der neuen Ära nur allzu deutlich vor Augen.
Ist eine islamische Monarchie in der Lage, den Weg zu einer Demokratie zu gehen? Und ist der marokkanische Monarch tatsächlich bereit, die dazu nötigen Reformen einzuführen und auf seine absolutistische politische Macht zu verzichten? Diese zwei zentralen Fragen sind es, die Marvine Howe, eine langjährige "New York Times"-Reporterin, in dem vorliegenden Buch "Morocco. The Islamist Awakening and Other Challenges" in erster Linie zu beantworten versucht.
Das Werk setzt sich aus 13 einzelnen Kapiteln zusammen, die sich auf vier Hauptteile verteilen. In "Return to Marocco" (1-52) gibt die Autorin eine kurze Einführung in die gegenwärtige Situation und einen Überblick über die Geographie und geopolitische Lage des Landes. Es folgt ein Abschnitt über die Bedeutung der jüngeren Vergangenheit für die jetztige Regierung ("The Ever-Present Past", 57-119). An eine Darstellung der verschiedenen Probleme, die die marokkanische Gesellschaft zu bewältigen hat ("Society in Motion", 123-220), schließt sich eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen, vom Herrscher initiierten Demokratisierungsprozesse an ("Royal Democracy", 223-354). Mit einem längeren Ausblick ("Epilogue: The Challenges", 355-380) endet das Werk.
Marvine Howe hat keine Studie vorgelegt, die sehr hohen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werden könnte. Dazu fehlt ihr offensichtlich eine fundierte politik- und/oder islamwissenschaftliche Ausbildung. Wir haben es eher mit einer Mischung aus gehobenen Journalismus, Memoiren und Reisebericht zu tun. Insbesondere die zahlreichen blumigen, orientalistisch-verklärenden Beschreibungen marokkanischer Städte und ihrer Bewohner, in der schemenhaft Orientale auftauchen und plötzlich wieder verschwinden, erschweren die Lektüre und führen dazu, dass die Erwartungen eines gebildeten Lesers an ein fundiertes Sachbuch nicht immer erfüllt werden. In vielen Kapiteln gewinnt man zudem den Eindruck, dass die Autorin sich gerne wiederholt.
Gleichwohl hat das Buch seine positiven Seiten. Denn die Verfasserin bietet einen ausführlichen Überblick über die diplomatischen Beziehungen Marokkos und seine Einbindung in das internationale Staatengeflecht. Ihr gelingt es ferner überzeugend herauszuarbeiten, dass die erschreckende Verelendung großer Bevölkerungsteile und die enormen Disparitäten zwischen den gesellschaftlichen Klassen das essentielle Problem des Landes sind. Mohammed VI. wird zwar als "König der Armen" bezeichnet, aber die von ihm eingeführten Reformen zeitigen bisher auf diesem Gebiet nicht die erhofften Ergebnisse. Die Journalistin schildert sehr anschaulich die großen Hindernisse, die auf dem Weg zu einer Demokratisierung des Landes liegen. Um bei dem Leser ein besseres Gespür für den Gesamtkontext der Problematik zu entwickeln, behandelt M.H. geschickt so unterschiedliche Themenkomplexe wie die Zersplitterung der marokkanischen Identität, die schwierigen Erfahrungen der verschiedenen politischen Akteure unter Hassan II., die absolutistische Macht des Königs, die politische Opposition, die Pressefreiheit und die marokkanische Zivilgesellschaft in all ihrer Vielfalt. International genießt Marokko, wie Howe zu berichten weiß, im Vergleich zu anderen arabisch-islamischen Ländern einen guten Ruf. Die historische Entscheidung, sich während des Kalten Krieges den USA statt der Sowjetunion anzunähern, erklärt die engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Washington und Rabat. Gleichzeitig sieht sich das Land aufgrund seiner Kolonialgeschichte in einer zwar sehr engen, aber nicht immer reibungsfreien Beziehung zu Frankreich. Die Verfasserin kann diese historischen Entwicklungslinien sehr gut nachzeichnen.
Ebenso subtil werden aber auch die Konsequenzen der bereits erwähnten Terroranschläge aus dem Jahre 2003, die das Land erschütterten und die Politik des Königs zu unterminieren drohten, analysiert. Sowohl die nationale Sicherheit wie auch der langsame demokratische Fortschritt bleiben letztlich gefährdet, solange der Machthaber die wahren sozialen Probleme des Landes nicht löst. Das Auftauchen einer starken islamistischen Partei auf der politischen Szene könnte darüber hinaus das ganze politische System erschüttern. Was die Zukunft für Marokko bringen wird, ist unklar. Marvine Howe begnügt sich daher in ihrer Schlussbetrachtung sinnvollerweise mit einer sehr zurückhaltenden Einschätzung der zu erwartenden Ergebnisse der marokkanischen Politik. Fest steht, dass der Monarch willens zu sein scheint, die Herausforderung, mit seinem politischen Erbe zu brechen und nachhaltige Demokratisierungsreformen durchzuführen, anzunehmen. Seine Herrschaft, in der große politische Tabus gebrochen wurden, bezeichnet man im Lande bereits jetzt als die "neue Ära". Dies ist einerseits Ausdruck einer Distanzierung von der Politik seines Vaters, andererseits ein Zeichen für den Beginn einer gewandelten, auf Vertrauen statt auf Angst basierenden Beziehung zwischen dem König und seinem Volk. Die Freilassung und Entschädigung von politischen Gefangenen aus der Zeit vor seiner Thronbesteigung war in diesem Kontext eine Premiere in der arabischen Welt.
Insgesamt bietet das Buch trotz seiner Unausgewogenheit und seines journalistischen Zugangs eine recht gute Einführung in das heutige Marokko. Marvine Howe erweist sich jenseits der spürbaren Nostalgie, mit der sie sich ihrem Untersuchungsgegenstand nähert, und jenseits ihrer offen geäußerten Enttäuschung über die postkoloniale Politik als eine erfahrene Nordafrika- und Marokkoexpertin. Ihre scharfen Analyse und die fundierte Kenntnis des historisch-politischen Kontextes sind bemerkenswert. Aus islamwissenschaftlicher Perspektive versäumt es die Journalistin im dritten Teil ihres Buches allerdings, den für ein Verständnis der religiösen Komponente wichtigen Bedeutungsunterschied zwischen "islamisch" (islamic) und "islamistisch" (islamist) deutlich herauszuarbeiten. Etwas überraschend ist auch, dass die Tochter von Abdessalam Yassine, also dem Gründer und Ideologen der verbotenen islamistischen Partei "Gerechtigkeit und Spiritualität", zu den wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Bewegung gezählt wird. Aber, wie gesagt, dennoch ist die Studie lesenswert.
Mehdi Sajid