Werner Trossbach / Clemens Zimmermann (Hgg.): Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart: UTB 2006, 336 S., ISBN 978-3-8252-8324-7, EUR 39,90
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Die "Geschichte des Dorfes" in einem Band vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart so zu beschreiben, dass daraus kein lediglich für Nachschlagezwecke und Prüfungsvorbereitungen nutzbares Handbuch mit vielen Einzelartikeln, sondern eine durchweg gut lesbare "große Erzählung" wird, bedarf einiger Voraussetzungen: eine theoretisch unterfütterte, fragestellungsorientierte Gliederung der Themenfülle, die eine Synthese des in den letzten Jahrzehnten epochenbezogen in zwar unterschiedlicher Dichte, aber insgesamt doch deutlich feststellbaren Forschungsfortschrittes im Bereich der Geschichte der ländlichen Gesellschaft zu berücksichtigen hat; verbindende Themen, die sich trotz des riesigen Untersuchungszeitraums durch alle Kapitel durchführen lassen; wechselnde Untersuchungsebenen zwischen Makro- und Mikroperspektive, die lokale und regionale Befunde einzuordnen helfen und am Einzelbeispiel die Schwierigkeiten der Verallgemeinerung aufzeigen. All diese Bedingungen - soviel vorweg - sind in dem vorliegenden Band erfüllt.
In einer ausführlichen Einleitung nähern sich die Autoren gemeinsam ihrem Forschungsgegenstand "Dorf". Ausgehend von Simmels Kategorienbildung, aber unter Verwendung der Tönnieschen Begrifflichkeiten legen sie sich auf eine Definition des Dorfes als eines "abgegrenzte[n] Raum[s] sozialer Vergesellschaftung mit definierten Regeln und erstaunlich hoher Variabilität, in dem sich Leben und Interaktionen von Personen, Personengruppen und Haushalten vollzog", fest (15 f.). Ausdrücklich fehlt in dieser Definition der Hinweis auf die lange Zeit vorherrschende Wirtschaftsform im Dorf, die Agrarwirtschaft, deren Bedeutung zwar im Buch keineswegs vernachlässigt wird. Aber spätestens seit der Neuzeit geht es bei der Beschreibung des Dorfes nicht um die bäuerliche, sondern um die ländliche Gesellschaft. Deren Analyse ist zudem nicht mit der Beschränkung auf das Dorf als selbstgenügsames System, sondern nur mit der Beachtung seiner Außenbeziehungen (über Markt, Stadt, Region, Staat etc.) zu leisten. Das Interesse der Autoren gilt der "Koexistenz unterschiedlicher Praktiken und Lebensprinzipien" (17), also dem Nebeneinander von herrschaftlichen und genossenschaftlichen Elementen, von Solidaritäten und Konflikten, aus den Sozialstrukturen resultierenden Machtverhältnissen und unterschiedlichen Ressourcentransfers. Daraus ergibt sich, dass zwar die "klassischen" Themen der Agrargeschichte, die Entwicklung der dörflichen Institutionen, die Sozialstruktur der ländlichen Gesellschaft, die Entstehung der verschiedenen Dorftypen, etwas weniger ausführlich die Wirtschaftsgeschichte des ländlichen Raums durch alle Zeiträume als Längsschnittanalysen gelesen werden können. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt aber in der Darstellung der Beziehungen und Interaktionen innerhalb der Dörfer, zwischen Verwandtschaft, Nachbarschaft, zwischen den Einzelhaushalten und der Gemeinde, zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen, sowie der außerdörflichen Kontakte. Unterschiedliche lokale und überlokale Transferleistungen werden ebenso beschrieben wie Kommunikationsbedingungen und der Einfluss und die Nutzung von Medien. So werden die Hexenprozesse zumindest teilweise als Folge gestörter Sozialbeziehungen infolge sozialer Polarisierungen vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Knappheitssituationen gedeutet. Beziehungen zwischen Herrschaft und Untertanen, innerhalb der Gemeinde und zwischen privaten Personengruppen (Verwandtschaft, Nachbarschaft, Arbeitsbeziehungen) werden auf ihre Funktion für Ressourcentransfers hin untersucht. Ausführliche Betrachtung erfahren die Machtbeziehungen im Dorf und daraus erwachsende Konflikte. Die Wissensbestände der Dorfbewohner werden für das 18. Jahrhundert am Beispiel der Besitzverhältnisse, der Verwandtschaftsbeziehungen und der kommunalen Angelegenheiten auch in Hinsicht auf ihre integrative Funktion beleuchtet. Die Erweiterung der Wissens- und Erfahrungswelten durch steigende Lesepraxis, neue Formen von Öffentlichkeit, Politisierung, Migration, Vereinsbildungen, schließlich moderne Kommunikationsmedien wie Telegraf, Telefon, Kino, Radio, Fernsehen wird unter Berücksichtigung des Einflusses von Urbanisierungs- und Suburbanisierungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts ausführlich dargestellt.
Auch die "quantitative Analyse" des Sachindexes zeigt, dass die beiden Autoren ihre Schwerpunkte in der Beschreibung der Differenziertheit der dörflichen Gesellschaft und der inner- wie außerdörflichen Beziehungsgeflechte sehen: Die meisten Nennungen verzeichnen die Begriffe: Allmend, Bauer, Familie, Frauen, Haus/Haushalt, Kleinbauern, Kommunikation, Land, Macht, Nachbarschaft, Stadt; gefolgt von: Boden, Eigentum, Gastwirtschaften, Gut, Handwerker, Heirat, Jugend, Kinder, Konflikte, Markt, Medien, Modernisierung, Tagelöhner, Verwandtschaft.
Diese Konzentration auf Praktiken, Interaktionen, Akteure und Relationen, ohne dabei auf die Darstellung der Strukturen zu verzichten, macht den innovativen Charakter des Buches aus, das zudem die im mittlerweile auch schon historischen Streit zwischen Vertretern der Historischen Sozialwissenschaft und der Alltagsgeschichte / Historischen Anthropologie geäußerten Vorbehalte Hans-Ulrich Wehlers, die Ergebnisse der Mikrohistorie seien nicht synthesefähig, hinreichend widerlegt.
Gunter Mahlerwein