Karlheinz Lüdeking: Grenzen des Sichtbaren (= Bild und Text), München: Wilhelm Fink 2006, 317 S., ISBN 978-3-7705-4290-1, EUR 29,90
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Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind die Verwendungszusammenhänge von Bildern immer unüberschaubarer geworden. Mit dem entgrenzten Austausch, der durch Abbildungs- und Übertragungstechnologien beschleunigt wird, entzieht sich das, was Bilder bedeuten können, zunehmend einer eindeutigen Bestimmung. Karlheinz Lüdeking stellt in "Grenzen des Sichtbaren" die historischen Konstellationen dar, in denen sich die Loslösung von Bildern und Zeichen aus ihren umgrenzten Zusammenhängen vollzieht, und er untersucht die sich daraus ergebenden bildtheoretischen Implikationen. Der Band versammelt Aufsätze und Vorträge, die Lüdeking zwischen 1988 und 2005 bereits an anderer Stelle veröffentlicht hat. Trotz dieses kompilatorischen Charakters, der die Verschiedenheit der Textsorten nicht zu verschleiern sucht, beziehen sich die einzelnen Abschnitte eng aufeinander und fügen sich zu einer dichten argumentativen Struktur. Immer wieder betrachtet der Verfasser das Problem der semantischen Entgrenzung aus einer anderen Perspektive und zeigt dabei neue, einander ergänzende Aspekte auf.
Ein zentrales Anliegen von Lüdeking ist es, den nach wie vor unterschätzten, starken Einfluss technischer Bilder - Fotografie, Film, Fernsehen und digitale Bilder - und ihrer massenmedialen Anwendung auf Konzepte künstlerischer Bildlichkeit hervorzuheben. Gleich zu Beginn des Buches geht er auf die Veränderungen des Bildbegriffs ein, die durch Techniken digitaler Bildbearbeitung hervorgerufen werden und die er mit der Unterscheidung von "hergestellten" und "verursachten" Bildern zu erfassen sucht. Von diesem Ausgangspunkt gehen die Texte in ihrer historischen Chronologie zunächst zurück zur Selbstreflexivität analoger Fotografien und zur Auseinandersetzung Marcel Duchamps mit dem "Paradigma der Fotografie" und den philosophischen Implikationen des Schattens. Es folgt eine Reihe von Texten, in denen der Verfasser die historischen und theoretischen Grundkonstellationen von Bildlichkeit im 20. Jahrhundert darlegt und zugleich seinen an der analytischen Philosophie orientierten methodischen Ansatz begründet. Mit beeindruckender Klarheit und begrifflicher Schärfe vergleicht Lüdeking Positionen von Heidegger, Wittgenstein, Magritte, Foucault, Goodman und Derrida und entwickelt daraus einen Zugang zur Frage nach den "Grenzen des Sichtbaren". Es geht darum, was geschieht, wenn die Bilder, aber auch die Dinge, die sie zeigen oder deren Abbildung sie verweigern, aus ihrem Gebrauchszusammenhang gelöst und frei verfügbar werden, wenn die Frage nach einem Ursprung ihren Sinn verliert: die Frage nach einem ursprünglichen Verwendungszusammenhang, in dem den Bildern und den Dingen in den Worten Heideggers ein "besorgender Gebrauch" widerfährt.
Unter dem Eindruck autonomer Bild- und Zeichenwelten verändern sich auch die Konzepte von Körperlichkeit und Subjektivität, die sich zunehmend vom individuellen Leib ablösen oder doch wenigstens abzulösen drohen. Hier wird ein grundlegender Unterschied zur Körperlichkeit in der Kunst der klassischen Moderne deutlich, die eher noch auf den Vergleich mit der Maschine abzielte. In Cindy Shermans Fotografien hingegen werden die prothetischen Körperteile zu reinen Zeichen, der "innere Aufbau [wird] ganz belanglos. Entscheidend ist die äußere Erscheinung, die sich allen Anforderungen anpassen läßt." (202) Dadurch entwickelt sich ein selbstständiges und nicht mehr zu kontrollierendes Spiel, in dem sich das Konzept des Körpers, aufgefasst auch als eine Bedingung von Subjektivität, zu verflüssigen beginnt. In einer klug eingefädelten Wendung führt der Verfasser die Argumentation mit einer Erörterung über den Alterungsprozess von Gemälden zurück zur Frage nach dem Benjaminschen Begriff der "Aura" des Kunstwerks und deren Auflösung in einer digitalen Notation. Der Aspekt der Reproduzierbarkeit spielt auch für die Überlegungen zum zeitgenössischen Kunstmarkt eine Rolle. Denn was die Kunst der Moderne in ihrem institutionenkritischen Aufklärungsgestus nur zu oft übersieht, ist das System von "Dokumentation, Reproduktion und Publikation" von dem sie abhängig ist. Einige zeitgenössische Künstler wie Matthew Barney haben dies allerdings erkannt und spielen geschickt das Spiel massenmedialer Sichtbarkeit mit. Der Begriff des Werks verliert dabei nun vollends seine Bedeutung. Völlig zu recht entlarvt Lüdeking das Bestreben der Kunstkritik, dieser Kunst einen Mantel humanistischer Bildung umhängen zu wollen: "Im stummen Zwang medialer Bilder verwirklicht sich die modernistische Utopie einer universellen und unmittelbar verständlichen Sprache der Kunst als höhnische Farce. Wir verstehen diese Bilder nicht deshalb ohne Worte, weil wir ihre visuelle Struktur sofort erfassen, sondern deshalb, weil sie uns von ihren unzähligen Vorgängern schon bekannt sind." (252) Was Lüdeking untersucht, ist das komplexe Wechselspiel von Tendenzen, die einen (nostalgischen) Zusammenhang von Bild und Bedeutung erstreben, und der gegenläufigen Verselbstständigung von Bedeutungen. Paradigmatisch für die übermächtig erscheinenden Autonomisierungstendenzen stehen das Fernsehen, aufgefasst als ein Übertragungsmedium, und die digitale Medien, denen die abschließenden Ausführungen gewidmet sind und die den Bogen zur "Pixelmalerei" schließen.
Wenngleich Begriffe wie die Iterierbarkeit der Zeichen im Zusammenhang mit der Autonomie von Bedeutungsstrukturen den theoretischen Modellen Derridas entlehnt sind, so unterscheiden sich Lüdekings Thesen und sein methodischer Ansatz grundlegend von den gerade in der Kunstkritik aber auch in der Bildwissenschaft noch immer gerne bemühten dekonstruktivistischen Formeln. Es ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst des Buches, dass die dekonstruktivistische Position historisch eingeordnet wird: "Diese schauerliche Vision einer unkontrollierbaren und übermächtigen Superstruktur von sprachlichen Zeichen und Bildern kann nicht allein durch den Einfluss der Lehren von Saussure entstanden sein. Sie spiegelt vor allem auch die tief greifende Veränderung unserer Erfahrungswelt, die durch die rapide Verbreitung der Massenmedien bewirkt wurde." (137) Anstelle des Saussureschen Begriffspaars von signifiant und signifé mit seinen metaphysischen Implikationen, die noch im Dekonstruktivismus - wenn auch immer negativ bestimmt - nachwirken, beruft sich Lüdeking auf Gottlob Freges sprachlogische Unterscheidung von Sinn und Bedeutung. Dem unmittelbar wahrnehmbaren Sinn eines Bildes steht seine erst im jeweiligen Verwendungszusammenhang zu erfassende Bedeutung gegenüber. Unter Berufung auf Wittgenstein weist Lüdeking darauf hin, dass der Begriff der Ähnlichkeit bildtheoretisch nicht sinnvoll anwendbar ist - eine Auffassung, die auch Nelson Goodman in "Languages of Art" (1968) entschieden vertreten hat. Die sich daraus ergebende Möglichkeit der Autonomie der Bedeutung ist jedoch keine "überzeitliche und rein logisch begründete Tatsache, sondern das Ergebnis eines langwierigen und verwickelten historischen Prozesses." (95) Und genau diesem Prozess geht der Verfasser in seinen kenntnisreichen und sorgfältig ausgearbeiteten Studien nach. Etwa wenn er zeigt, wie Duchamp oder Magritte in ihrer Kunstproduktion auf unterschiedliche, aber verwandte Weise auf ihre jeweilige (kunst-)historische Situation reagieren. Lüdeking verweist in diesem Zusammenhang auch auf ein höchst aufschlussreiches Missverständnis zwischen Magritte und Foucault. Während Wittgenstein - besonders dessen Spätphilosophie - auch für die Methode der Untersuchungen wichtig ist, dient Heideggers Philosophie, auf die der Verfasser ebenfalls immer wieder eingeht, in höherem Maß dazu, eine historische Gegenposition zu erschließen. So umschreibt Heideggers "Geviert" aus "Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen" eine Einheit, die erst im Bewusstsein ihres Verlusts als solche anerkannt wird, die, zugespitzt formuliert, eine nicht mehr einlösbare Sehnsucht nach einer längst verlorenen Einheit von Ding/Bild und Bedeutung zum Ausdruck bringt.
Oft wird der analytischen Philosophie vorgeworfen, sie erlaube lediglich ahistorische Untersuchungen, sie sei dem status quo verhaftet, konservativ und entziehe sich einer kritischen Haltung. Lüdeking belegt in "Grenzen des Sichtbaren" eindrucksvoll das Gegenteil, und er liefert einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen bildwissenschaftlichen Debatte. Mit seiner vielschichtigen Argumentationsstruktur bietet das Buch weit mehr als eine Neuauflage vereinzelt publizierter Texte. Es zeigt zudem die Möglichkeiten eines gerade in der deutschsprachigen Kunstwissenschaft viel zu lange vernachlässigten methodischen Ansatzes auf.
Henning Engelke