Rezension über:

Graeme Morton / Boudien de Vries / R. J. Morris (eds.): Civil Society, Associations and Urban Places. Class, Nation and Culture in Nineteenth-Century Europe (= Historical Urban Studies), Aldershot: Ashgate 2006, xiv + 220 S., ISBN 978-0-7546-5247-2, GBP 55,00
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Rezension von:
Elfie Rembold
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Elfie Rembold: Rezension von: Graeme Morton / Boudien de Vries / R. J. Morris (eds.): Civil Society, Associations and Urban Places. Class, Nation and Culture in Nineteenth-Century Europe, Aldershot: Ashgate 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/12316.html


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Graeme Morton / Boudien de Vries / R. J. Morris (eds.): Civil Society, Associations and Urban Places

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Forschungen über die Zivilgesellschaft haben Konjunktur. Sind die theoretischen Diskussionen um diesen Begriff lange von dem Verständnis ausgegangen, die "civil society" sei als eine im autonomen Raum zwischen Privatsphäre und Staat anzusiedelnde Einheit zu sehen, haben historische Forschungen diese Erkenntnis jetzt in Frage gestellt. Das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft wird zumindest als ein ambivalentes gesehen. Konzeptionell interessierte Historiker fordern erstens eine weitergehende Historisierung der "Zivilgesellschaft", also den Fokus künftiger Forschung auf die Kultur und Praxis von Vereinen und Verbänden zu richten. Zweitens wird der Staat als Akteur wieder ernst genommen. Fragen nach der unterschiedlichen Rolle des Staates sowie der Bedeutung der politischen Systeme für die unterschiedlichen Entwicklungen der Länder sollen verstärkt in den Vordergrund rücken. [1] Beides einzulösen, haben sich Graeme Morton (der allerdings nur als Herausgeber fungiert), Boudien de Vries und Robert J. Morris in dem hier zu besprechenden Band vorgenommen.

Der Edinburgher Sozial- und Stadthistoriker Morris synthetisiert die Ideengeschichte zur Civil Society und geht auf jene wenigen Theoretiker (Putnam, de Tocqueville, Habermas, Gellner und Bermeo/Nord) ein, die eine "consistent historical analysis or narrative" (4) dieses Begriffs geliefert haben. Ihre Arbeiten bilden den Ausgangspunkt für die hier zusammengetragenen kulturorientierten Untersuchungen, welche die Praxis der Zivilgesellschaft freilegen sollen, indem sie nach den kulturellen Handlungsbedingungen der Vereine und Verbände fragen. Untersuchungsort ist jeweils der städtische Raum in Europa und der Neuen Welt, in dem die Verbandspraxis untersucht wird. Damit nehmen die Herausgeber eine etwa gleichzeitig mit Entstehung des Sammelband formulierte aktuelle Forderung des englischen Politikwissenschaftlers John Keane auf, die Beziehungen zwischen der europäischen Stadtgeschichte und der Entstehung der Zivilgesellschaft zu reflektieren. [2]

Die so zusammengetragenen Aufsätze können als die Historisierung der Reflexionen des französischen Theoretikers Alexis de Tocqueville über die amerikanische Demokratie gesehen werden. Beginnend mit der Stadt New York, die den Typus der zivilgesellschaftlichen Entwicklung nahezu in Reinform verkörpert, werden im Weiteren süd- und südosteuropäische Provinzialstädte vorgestellt. Das letzte Drittel des Bandes widmet sich West- und Nordwesteuropa. Hier bieten die beiden Herausgeber, de Vries und Morris, jeweils eine Periodisierung der Zivilgesellschaft in den Niederlanden und Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert. Dieser typologisierenden Chronologie folgen Fallstudien zu Den Haag und Glasgow, in denen deren allgemeine Aussagen historisch überprüft, bestätigt und relativiert werden. Besonders hervorzuheben ist er abschließende Aufsatz von Carol E. Harrison über die "bürgerliche Staatsbürgerschaft" im postrevolutionären Frankreich. Am Beispiel der französischen Kleinstadt Lons le Saunier dekonstruiert die Autorin grundlegende Thesen zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat. Durch die andere Entwicklung in Frankreich wird einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob die Zivilgesellschaft nicht eine spezifisch anglo-amerikanische Entwicklung der Moderne ist, während der europäische Kontinent eine im Ganzen staatsbezogenere Demokratisierung der Gesellschaft durchlaufen hat. Die Positionierung dieses Beitrages am Schluss des Bandes schließt nicht nur den Spannungsbogen über die Bandbreite der Vereinigungen, den Sven Beckert eröffnet hat, sondern gibt Anstöße zu weiteren Diskussionen über Formen und Ausmaße der Zivilgesellschaft.

Sven Beckerts Untersuchungen der zivilen Vereinigungen im New York des 19. Jahrhunderts bestätigen die Erkenntnisse de Tocquevilles, dass die verfassungsrechtlich verbürgte amerikanische Freiheit vom Engagement seiner Bürger lebt. Diese mussten sich nicht gegenüber einem mächtigen Staat behaupten und konnten die gesellschaftliche Ordnung nach ihren freiheitlichen Vorstellungen prägen. Erst mit dem Erstarken sozialistischer Vorstellungen wurden die Verbände exklusiv und es kommt zu Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im öffentlichen Raum. Vom ganz anderen Ende her verlief der Demokratisierungsprozess in de Tocquevilles Heimatland Frankreich. Aufschlussreich sind hier Carol Harrisons Ausführungen. Sie zeigt, wie die relativ späte Einführung der Versammlungsfreiheit (1901) in Frankreich ein eng mit staatlichen Institutionen verflochtenes Verbandsleben hervorgebracht hat. Die Bürger der USA und Frankreichs unterschieden sich in ihrem Selbstverständnis. Während die New Yorker Bürger die Gestaltung des öffentlichen Raums als ihre Angelegenheit betrachteten, begriffen die französischen Stadtbürger ihre Staatsbürgerschaft als eine Art Belohnung seitens des Staates und seiner Verwaltungsinstitutionen.

Welche Formen Bürgertum und Zivilgesellschaft zwischen diesen beiden Polen annehmen konnten, beleuchten im Weiteren die Aufsätze zu Neapel, zu ausgewählten Städten des Habsburgerreiches (Bratislava, Triest und Hallein), den Niederlanden (Den Haag) und zu Großbritannien (Glasgow). Daniela Luigia Cagliotti betont, dass sich städtisches Verbandsleben in Neapel erst nach Aufhebung des Versammlungsverbots während der Restaurationszeit entwickeln konnte. Im Unterschied zur westeuropäischen zivilgesellschaftlichen Entwicklung gelang es weder Kleinbürgern noch Arbeitern sich in stabilen Verbänden zu organisieren. Dadurch verblieben Adelige und das gehobene Bürgertum in einer sozialen und politischen Hegemonialstellung.

Die drei ausgewählten Städte im Reich der Habsburgmonarchie zeichnen sich als provinzielle Grenzstädte aus. Die Leser hätten ein differenzierteres Bild über die civil society in der Salzstadt Hallein erhalten, wenn Ewald Hiebel dessen Verbandsleben eher aus der Akteursperspektive betrachtet hätte. Er bilanziert die allgemeine politische und ideologische Ausdifferenzierung der Verbandslandschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, attestiert aber seinen Vertretern Kooperationswillen im Interesse der Kommune. Im Unterschied dazu hoben sich Bratislava und Triest durch ihre ethnische Heterogenität und durch nationale Ausrichtung des Verbandslebens hervor. Organisierten sich in der ersten Jahrhunderthälfte Adelige und Großbürger in Bratislava (Elena Mannova) noch in ethnisch gemischten Logen und Verbänden, führten die veränderten staatlichen Bedingungen (österreich-ungarischer Ausgleich) zu einer nationalen Separierung des Verbandslebens durch die einsetzende Magyarisierungspolitk. Triest (Sabine Rutar) schwankte zwischen italienischem Risorgimento und slowenischen Nationalismus. Entlang dieser Grenzen formierten sich auch die Verbände. Nur die Sozialdemokratie wirkte nach der Jahrhundertwende noch politisch inklusiv. Aber auch hier hielt sich die Sozilabilität in Grenzen, da ihre Mitglieder in kulturell getrennten Zirkeln agierten.

In den Niederlanden spielten politische Ideologien solange keine Rolle, wie die Patrizier die Städte beherrschten. Boudien de Vries konstatiert hier einen Wandel um 1870, als sich das patriotische Bürgertum gegen den dominanten Liberalismus der Patrizier positionierte. Der mikroskopische Blick Jan Hein Furnée auf Den Haag bestätigt den differenzierenden und ausschließenden Charakter dieser altehrwürdigen und sich selber als "fashionable classes" bezeichnenden Herrenklubs. Das städtische Kleinbürgertum schloss sich folglich um 1830 in eigenen Vereinen zusammen mit der Folge einer Hierarchisierung der Bürgervereinigungen. Durch Differenzierung und Exklusion förderten die "alten" Klubs keineswegs das zivile Leben im öffentlichen Raum.

Schließlich legt Robert Morris präzise dar, wie sehr die Verbandskultur in ihrer ganzen Breite, Tiefe und Dynamik von England repräsentiert wurde. Er betont die spezifische Offenheit der Verbände, die seit den 1860er Jahren auch Frauen in ihren Reihen zuließen. Es war gerade diese Offenheit, die dem Bürgertum die Kontrolle über das Verbandsleben entzog und der sozialistischen Ideologie den öffentlichen Raum überließ. Ganz ähnlich verhielt es sich auch in Schottland, wo die Abwesenheit des Staates die Selbstorganisation des Bürgertums befruchtete. Irene Maver untersucht die Industriestadt Glasgow und die Bürgervereinigung der Abstinenzler. Ihre Ordnungsvorstellungen prägten um die Jahrhundertmitte nicht nur das Leben in der Stadt, sondern fanden auch unzählige Vertreter in andern schottischen und englischen Städten.

Im Ergebnis liefern die Aufsätze konkrete Einblicke in das Verbandsleben, welches zu einem wichtigen Forschungsfeld für Historiker avanciert ist. Schließlich wird auch klar, wie viel Arbeit gerade für den osteuropäischen Raum noch geleistet werden muss, um die Verbandspraxis tiefer auszuloten und die Rolle der staatlichen Bedingungen für die Ausprägung der Zivilgesellschaft besser fassen zu können. Ein Sachwortregister und eine ausführliche Bibliographie verhelfen Studierenden zu einem schnellen und leichten Einstieg in das Thema "Zivilgesellschaft". Insgesamt ein lesenswertes, da erkentnisförderndes Buch.


Anmerkungen:

[1] Arnd Bauerkämper: Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt/Main 2003, S. 25. Ralf Jessen/Sven Reichardt/Ansgar Klein (Hg.): Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 2004, bes. Jürgen Nautz: Soziopolitische Fragmentierung und Kompromissbereitschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Österreich und Niederlande im Vergleich, 261-281.

[2] Introduction: Cities and Civil Society, in: Ders. (Hrsg.): Civil Society. Berlin Perspectives, New York 2006, 1-39.

Elfie Rembold