Rezension über:

James Levy: Appeasement and Rearmament. Britain 1936-1939, Lanham: Rowman & Littlefield 2006, xvi + 189 S., ISBN 978-0-7425-4538-0, GBP 12,99
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Rezension von:
Bernhard Dietz
London
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Dietz: Rezension von: James Levy: Appeasement and Rearmament. Britain 1936-1939, Lanham: Rowman & Littlefield 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/12625.html


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James Levy: Appeasement and Rearmament

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Im angelsächsischen Raum gibt es wohl wenige politisch-historische Schlagworte, die derart emotionsgeladen sind wie der Begriff "appeasement". Immer wieder werden historische Analogien zur britischen Außenpolitik gegenüber dem Deutschen Reich und speziell zu dem Münchener Abkommen von 1938 gezogen, um eine außenpolitische Haltung als unentschlossen, naiv-pazifistisch und inkompetent zu brandmarken. Die "Remember Munich!"-Analogie erwies sich dabei als äußerst vielseitig. Sie konnte als Slogan gegen Vietnamkriegsgegner oder gegen Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion genutzt werden. Oder wie kürzlich sowohl zur Rechtfertigung des Regimewechsels im Irak als auch für die Fortsetzung der amerikanischen Besatzung dienen, bei der der Kampf nun "the rising threat of a new type of fascism" gelte - so der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im August 2006.

Die fortdauernde und populäre Sichtweise, in der die Außenpolitik der britischen Premierminister Stanley Baldwin und insbesondere Neville Chamberlain als historischer Fehler erscheint, ist früh und maßgeblich von ihrem direkten Nachfolger Winston Churchill bestimmt worden. Im ersten Band seiner außerordentlich erfolgreichen Kriegserinnerungen "The gathering storm" von 1948 prägte Churchill das negative Bild der Außenpolitik seiner Vorgänger für Generationen. Demnach war Chamberlain verantwortlich für "grave misjudgements of facts, having deluded himself and imposed his errors on his subservient colleagues and upon the unhappy British public opinion". Die britische Außenpolitik im Jahr vor dem Kriegsausbruch sah Churchill als "sad tale of wrong judgments formed by well-meaning and capable people" und letztlich als "a line of milestones to disaster". [1]

Gegen dieses Geschichtsbild anzuschreiben ist nun das erklärte Ziel des britisch-amerikanischen Historikers James Levy. In seiner knapp 200 Seiten langen Studie geht es ihm vor allem darum, die "fantastically inflated reputation" Churchills sowie das Bild von Chamberlain als "collective whipping boy of the British establishment" (xiii) ins rechte historische Licht zu rücken. Sein zentrales Argument dabei ist, dass appeasement und rearmament als "tandem policies" zu verstehen sind, also die Politik der Verhandlungen und Zugeständnisse als eine Seite der Medaille mit der anderen, der Aufrüstungskampagne der späten dreißiger Jahre, unmittelbar verbunden ist. Premierminister Chamberlain, so Levy, versuchte in der Tat sein Bestes, um einen Krieg mit Nazi-Deutschland zu vermeiden, gleichzeitig gelang es ihm aber so, die nötige Zeit zu gewinnen, um Großbritannien militärisch auf einen Krieg vorzubereiten. Kern des Buches ist das dritte der acht Kapitel, in dem der Autor seine eigentliche Expertise zur Geltung bringt und die Modalitäten der britischen Rüstungsanstrengungen für die einzelnen Teilstreitkräfte analysiert. Dabei kommt Levy zu dem Ergebnis: "The vast majority of senior officers seem to have believed that Appeasement was necessary for Rearmament." (85)

Der Klappentext des Buches preist die Argumentation von Levys Studie als "standing against conventional wisdom" - "the wisdom of the 1950s and 1960s" ist man als Leser versucht hinzuzufügen, also jene zwei Nachkriegsjahrzehnte, in denen die Erinnerungen von Winston Churchill, Anthony Eden und anderen beteiligten Staatsmännern von der britischen Geschichtswissenschaft noch weitestgehend unkritisch behandelt wurden. Eine ganze Welle revisionistischer Bücher und Artikel setzte aber bereits in den späten 1960er Jahren ein, als die britische Regierung von Premierminister Harold Wilson unter dem "30-year-rule" Historikern Zugang zu Schlüsseldokumenten der späten 1930er Jahre gewährte. David Dilks, Maurice Cowling, Paul Kennedy, John Charmley u. a. haben dabei nicht nur versucht, das Bild Chamberlains als eines schwachen und ineffektiven Politikers zu rehabilitieren, sondern vor allem auch auf die historischen Wurzeln und die wirtschaftlichen, militärischen und parteipolitischen Bedingungen der Appeasement-Politik einzugehen.

Zurückblickend resümiert Frank McDonough die Folgen dieser Forschungen: "It has now become a commonplace to view Chamberlain not as a weak and ineffective leader following moral bankrupt policy, but as a complex and able leader with a clear sighted approach to foreign policy". [2] Dass auf diese Studien weder in den äußerst spärlichen Fußnoten noch in dem "Bibliographical Essay" am Ende des Buches eingegangen wird, ist angesichts der Hauptthese von "Appeasement & Rearmament" schon erstaunlich. Insofern ist es aber nur konsequent von Levy, jene neuen Studien zu ignorieren, die sich wiederum als kritische Reaktion auf die Revisionisten verstehen und sich bemühen, ein ausgewogeneres Bild der Appeasement-Politik zu zeichnen. Prominentestes Beispiel für die "post-revisionistische Phase" ist der Historiker R.A.C. Parker, der Appeasement zwar betont nicht als Politik der Schwäche und der Kapitulation beschreibt, andererseits aber pointiert aufzeigt, dass Handlungsspielräume und politische Alternativen viel zu wenig gesehen wurden. [3]

Wenn Levys These und Argumentation schon nicht neu sind, so hätten diese vielleicht mehr Gewicht gewonnen, hätte der Autor den einen oder anderen neuen Archivfund präsentiert. Doch Levy stützt sich nicht nur auf keine neuen Quellen, sondern auf gar keine Archivbestände. Bleibt zu fragen, ob das Buch als einführende Überblicksdarstellung zu empfehlen ist. Aber auch als solche vermag das Buch nicht zu überzeugen, und das liegt vor allem an einer schwammigen Darstellung. Vergleichsweise harmlos ist da noch Levys Verständnis von einem lockeren Stil - wenn er beispielsweise erklärt, dass die Briten in der Folge der Abessinien-Krise Italien keine zu großen Zugeständnisse mache wollten, weil dies bedeute, "to cut humiliating deals with a nation like Italy that they looked down upon as a bunch of disreputable and inferior gelato makers" (41). Ärgerlich sind hingegen historische Ungenauigkeiten wie die Datierung der Erweiterung des Wahlrechts in Großbritannien von 1928 für Frauen ab 21 Jahren auf das Jahr 1930 (32). Wirklich problematisch ist jedoch eine völlig verkürzte Darstellung der außenpolitischen Motive Nazi-Deutschlands, in der auf die nationalsozialistische Rassen- und Lebensraumideologie überhaupt nicht eingegangen und Hitlers Expansionspolitik ausschließlich als eine Flucht vor der "economic implosion at home" (104) beschrieben wird.

In seiner Zusammenfassung insistiert Levy, man dürfe Chamberlains Politik nicht zu sehr ex-post-facto, sondern müsse sie stärker aus zeitgenössischer Perspektive beurteilen. Es scheint, dass der Autor diese Devise nicht nur von einem moralischen, sondern auch von einem wissenschaftlichen Standpunkt beherzigt hat.


Anmerkungen:

[1] Winston S. Churchill: The Second World War, Volume I, The Gathering Storm, London 1971, 309-311.

[2] Frank McDonough: Hitler, Chamberlain and appeasement, Cambridge 2002, 83.

[3] R. A. C. Parker: Chamberlain and Appeasement: British policy and the coming of the Second World War, Basingstoke 1993; ders.: Churchill and Appeasement, London 2000.

Bernhard Dietz