Jukka Renkama: Ideology and Challenges of Political Liberalisation in the USSR, 1957-1961. Otto Kuusinen's "Reform Platform", the State Concept, and the Path to the 3rd CPSU Programme (= Bibliotheca Historica; 99), Helsinki: Suomalaisen Kirjallisuuden Seura 2006, 396 S., ISBN 978-951-746-802-2, EUR 29,00
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Die jüngere Forschung misst ideologischen Prämissen und Wahrnehmungsmustern in der sowjetischen Politik unter Chruščev einen hohen Stellenwert bei. [1] Das gilt zum einen für den Bereich der internationalen Beziehungen. Doch auch wirtschaftspolitische Entscheidungen, Maßnahmen der begrenzten Entstalinisierung oder der Umgang mit der frühen Dissidenz lassen sich ohne Berücksichtigung ideologischer Prämissen des Kreml - wie grobschlächtig auch immer - nicht erklären. Von daher ist es nur zu begrüßen, dass sich die Studie von Renkama mit der Genese des neuen Parteiprogramms der KPdSU von 1961 befasst. Seine Studie belegt die enge Verknüpfung innerparteilicher Diskussionen mit Auseinandersetzungen in der Arena der kommunistischen Weltbewegung und damit die komplexe Verstrebung innen- wie außenpolitischer Macht- oder Ideenkämpfe. Renkamas kluge Auffächerung der vielschichtigen Funktionen sowie der zahlreichen Instrumentalisierungsmöglichkeiten ideologischer Debatten und Definitionen (29f., 34f., 46-56) unterstreicht noch einmal eindrucksvoll das analytische Potenzial ideengeschichtlicher Ansätze für die zeitgeschichtliche Forschung. [2]
Der Autor legt den Schwerpunkt seiner Untersuchungen (18) auf das vorrangig innenpolitisch wirksame Staatskonzept. Dabei war die Ablösung der "Diktatur des Proletariats" durch den allgemeinen Volksstaat Bestandteil der ambitiösen Fortschrittsplanung Chruščevs auf dem Weg zum Kommunismus, diente zugleich aber der Fortschreibung der erst wenige Jahre zuvor angestoßenen Entstalinisierung. Diese weiten Konnotationen führten daher sowohl zur harschen chinesischen Kritik an der neuen Programmatik als auch zur innenpolitischen Verkümmerung des Konzepts nach Chruščevs Sturz. Mit Otto Kuusinen war ein prominenter und früher Befürworter des theoretischen Umbaus bereits wenige Monate vorher verstorben.
Der altgediente finnische Kommunist hatte schon im Frühherbst 1957 für eine programmatische Aufgabe des "Diktatur"-Konzepts plädiert. Die langwierige Durchsetzung dieser Programmänderung und schließlich der Verzicht auf die Einführung echter Wahlmöglichkeiten, die über Jahre debattiert wurden, spiegeln die tiefen innerparteilichen Gräben zwischen - begrenzt - reformwilligen Vertretern auf der einen und Stalinisten auf der anderen Seite sowie deren prekäres Kräfteverhältnis wider. So zeigte sich etwa die von Kuusinen verantwortete neue Ausgabe der "Grundlagen des Marxismus-Leninismus" von 1959 weitaus verbindlicher als seine privaten Äußerungen. Zudem konnte sich Kuusinen 1958 nur kurze Zeit als Vorsitzender der neuen Programmkommission halten. Insgesamt kam ihm trotz seiner hohen Parteiämter in der macht- und ideologiepolitischen Auseinandersetzung keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Kuusinen verkörperte aber die Strömung der Partei, die dem Terror der Stalin-Ära abschwor, und er brachte den Mut auf, in den entsprechenden post-stalinistischen Debatten Stellung zu beziehen. Seine Position schärft noch einmal den Blick auf die Entstalinisierung als Projekt, das über die Person Chruščevs hinausging. Kuusinen stellte neben seiner Stimme auch Ideen respektive Vokabular für die post-stalinistischen Auseinandersetzungen zur Verfügung und setzte eigene Schwerpunkte. In seinen ersten Reformvorschlägen, die er im Frühherbst 1957 bezeichnenderweise direkt an Chruščev sandte, argumentierte der ehemalige Komintern-Funktionär unter anderem mit erweiterten außenpolitischen Propagandamöglichkeiten, die eine reformierte Programmatik erlauben würde. Renkama sieht die eigentliche Hauptstoßrichtung der Kuusinen'schen Änderungswünsche indes innenpolitisch, anti-stalinistisch gerichtet: Das Ende der "Diktatur des Proletariats" sollte demnach jedem Terror die ideologische Grundlage entziehen (26). Der Wunsch, die Stalin-Ära unwiederholbar zu machen, habe zudem Kuusinens scharfe Rhetorik im chinesisch-sowjetischen Schisma befeuert: Auf diesem Gebiet fürchtete Kuusinen sicherlich mit Recht eine Re-Stalinisierung durch die Hintertür, wenn sich die KPdSU radikalen Positionen Maos annähern würde. Dies alles waren starke Antriebskräfte, und die umsichtige Einbettung der laufenden Debatten innerhalb der UdSSR und mit China in die post-stalinistische Entwicklung in der Sowjetunion verleiht der Argumentation einiges Gewicht. Doch letztlich scheint es ein konstruierter Gegensatz zwischen innen- und außenpolitischen Prioritäten zu sein: Die innenpolitischen Erwägungen werden Kuusinen keineswegs den Blick auf außenpolitische Auswirkungen beziehungsweise internationale sowjetische Interessen verstellt haben.
Die Monografie entwickelt ihre Einsichten in die Programmdebatten der 1950er und 1960er Jahre auf breiter Grundlage und nutzt ausgiebig die Materialien der Programmkommission. Der eingangs angesprochenen, wichtigen methodologischen Debatte zum Stellenwert der Ideologie in der UdSSR folgt ein recht langer ideologiegeschichtlicher Überblick über Staats- und Parteimodelle bolschewistischer Denker und Lenker von Lenin bis Chručev. Danach stellt der Autor die wesentlichen Thesen der Reformpapiere Kuusinens von 1957 der bereits erwähnten Grundsatzpublikation von 1959 entgegen und diskutiert Kuusinens Kritikpunkte am Programm von 1961. Der anschließende Vergleich seiner grundsätzlichen Positionen mit den bolschewistischen Vorläufern zeigt fast schon erwartungsgemäß die ideologische Nähe. Dagegen bringen Abgleiche mit ausländischen zeitgenössischen Entwürfen in Ungarn, Jugoslawien und China deutliche Differenzen zum Vorschein, die die bilateralen Beziehungen mit erschweren mussten. Das achte und vorletzte Kapitel widmet sich der eigentlichen Programmdiskussion in der UdSSR ab 1958. Das liberalisierte Staatskonzept verdankte seine Durchsetzung letztlich Chruščev. Dessen Interesse als Parteichef lag indes deutlich weniger auf den theoretischen als auf greifbareren Feldern: Die wirtschaftspolitischen, allerdings utopischen und mitunter schlicht realitätsfernen Züge des Programms trugen Chruščevs Handschrift. Ganz nebenbei traten im Zuge der Programmdiskussion und -formulierung die Schattenseiten des Chrušev'schen Regiments deutlich hervor: selbstherrlich und anmaßend verwarf er jede Kritik seiner Genossen an seinen Zielsetzungen. Das Programm der KPdSU von 1961 blieb nicht nur aus diesem Grund ein bloßes Stück Papier. Auf der anderen Seite war die Entstalinisierung zu diesem Zeitpunkt zwar beileibe nicht durchgeführt, aber ein letztlich unumkehrbarer Prozess. Die Studie räumt den damaligen Programmdebatten mit Recht einen wichtigen Platz für Entschlüsselung und Nachzeichnung innersowjetischer Entwicklungen ein. Es bleibt zu wünschen, dass die internationalen Dimensionen und Kernfragen dieser Debatten eine ähnlich fundierte Darstellung finden, um die ideologische Verzahnung dieser Politikfelder angemessen erfassen zu können.
Anmerkungen:
[1] Vgl. William Taubman: Khrushchev. The Man and his era, New York 2003.
[2] Vgl. in engerem Kontext S. Neil MacFarlane: Superpower rivalry & 3rd world radicalism: the idea of national liberation, London 1985.
Andreas Hilger