Valentin Kockel / Brigitte Sölch (Hgg.): Francesco Bianchini (1662-1729) und die europäische gelehrte Welt um 1700 (= Colloquia Augustana; Bd. 21), Berlin: Akademie Verlag 2005, 274 S., ISBN 978-3-05-004133-9, EUR 59,80
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Wohl auf kaum einem anderen Gebiet historischer Forschung haben sich Interdisziplinarität und kulturwissenschaftlicher Ansatz bzw. die Verbindung beider Zugänge so fruchtbar gezeigt wie bei der Erforschung des gelehrten Wissens der frühen Neuzeit. Schließlich war dieses bis weit in das 18. Jahrhundert hinein vom Ideal der Universalwissenschaft geprägt und damit nach heutigem Verständnis in einem so umfassenden Sinn disziplinübergreifend, dass sich selbst das Werk einzelner Gelehrter überhaupt nur im Zusammenwirken verschiedener moderner Fächer bzw. Wissenschaften erforschen lässt. Ein Beispiel dafür ist der römische Kurialbeamte und Universalgelehrte Bianchini, der u.a. auf den Gebieten Universalgeschichte, Kirchengeschichte, Altertumskunde, Mathematik und Astronomie publizistisch bzw. experimentell tätig war und es mit seinen Forschungen zu erheblichem Ansehen auch außerhalb Italiens brachte: Bianchini korrespondierte u.a. mit Newton und Leibniz und war Ehrenmitglied der königlichen Akademien in London und Paris. Das für eine solche Gelehrtenexistenz notwendige materielle Auskommen verdankte er maßgeblich der Förderung durch den 1700 zum Papst gewählten Clemens XI., der ihn mit verschiedenen Pfründen und Ämtern bedachte und ihm mehrere diplomatische Missionen anvertraute.
Eine wichtige Rolle spielte Bianchini, der 1703 zum 'Presidente delle antichità di Roma' ernannt wurde und daher über die Ausgrabungen antiker Stätten bestens informiert war, darüber hinaus bei der Beschreibung und Verfügbarmachung antiker und frühchristlicher archäologischer Zeugnisse, für die er verschiedene Sammlungskonzepte entwarf - so ab 1703 den Plan für ein 'Museo ecclesiastico', der zwar 1710 aus finanziellen Gründen wieder aufgegeben wurde, durch die postume Veröffentlichung der Entwürfe durch Bianchinis Neffen Giuseppe (1704-1764) aber auf das spätere 'Museo Sacro' nachwirkte (Brigitte Sölch, Paolo Liverani). Diesem Teil von Bianchinis Aktivitäten, dem "Gelehrten der Anschauung" (Kockel/Sölch), gilt erkennbar das Hauptaugenmerk des Bandes: Exakt die Hälfte der zehn Beiträge (die sehr instruktive Einführung nicht mitgezählt) befasst sich mit Bianchinis bildlichen Antikendarstellungen, Museumsprojekten und architektonischen Rekonstruktionen. Seine von den Zeitgenossen viel beachteten astronomischen Forschungen - die mit dem Meridian in der Kirche S. Maria degli Angeli ebenfalls räumliche Präsenz entfalteten - und die nicht minder bekannten historiographischen Werke werden dagegen mit nur jeweils einem Beitrag weitaus kürzer behandelt (John L. Heilbron, Susan M. Dixon).
Die übrigen Beiträge widmen sich dem historisch-politischen Kontext von Bianchinis Wirken: Irene Favaretto rekonstruiert die frühen Jahre Bianchinis vor seinem Aufbruch nach Rom 1684, die dieser - mit Ausnahme der Schulzeit am Jesuitenkolleg von Bologna - überwiegend in seiner Geburtsstadt Verona bzw. an der benachbarten Universität Padua verbrachte. Sie arbeitet dabei vor allem die Bedeutung des Veneto als Patronagesystem wie auch als Gelehrtennetzwerk heraus. So verdankte Bianchini seine für seinen weiteren Karriereverlauf so bedeutende Übersiedlung nach Rom dem aus Venedig stammenden Kardinal Ottoboni, und auch seine wissenschaftlichen Kontakte bauten auf seiner Studienzeit und der Bekanntschaft mit dem venezianischen Patrizier Gerolamo Correr auf. Christopher M.S. Johns schließt daran an, indem er den Zusammenhang von Kultur- und Außenpolitik des Kirchenstaates unter Clemens XI. erhellt - die Förderung der Wissenschaften diente immer auch der Legitimation der territorialen Eigenständigkeit Roms, wie im Übrigen auch Bianchinis historiographischer Werke. Mit den Verflechtungen von Kultur und Politik in der ewigen Stadt und deren außenpolitischer Dimension im Spannungsfeld des Spanischen Erbfolgekrieges beschäftigt sich auch der Aufsatz von François de Polignac über die 'cardinaux antiquaires' Albani, Gualtieri, Davia und Polignac, die als Mäzene weitreichenden kulturpolitischen Einfluss entwickelten und dabei zugleich immer den machtpolitischen Interessen ihrer Patrone in Wien und Versailles verpflichtet blieben.
Die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Politik und Wissenschaft bis in die Werke und ihre bildlichen Darstellungen hinein zurückzuverfolgen ist - neben dem grundsätzlichen Verdienst, mit Bianchini einen außerhalb Italiens wenig bekannten Universalgelehrten in das Bewusstsein der historischen Forschung gerückt zu haben - einer der unbestrittenen Vorzüge des Bandes. Daneben zieht sich als eine Art roter Faden die Frage nach "Bianchinis Verhältnis zum Objekt und zum Bild" (Einleitung, 26) durch die Mehrzahl der Beiträge. Dies ist zum Teil sicher der disziplinären Zusammensetzung des Autorenkreises geschuldet: Außer den beiden Herausgebern entstammt auch die Mehrzahl der Beiträgerinnen und Beiträger den Fächern Archäologie und Kunstgeschichte. Darüber hinaus kommt der Bedeutung von Bildern und Artefakten und ihrem komplexen - aus heutiger Sicht oft nicht konsistenten - Verhältnis zum Text aber wohl tatsächlich eine Schlüsselrolle für das Verständnis der 'Ordnungen des Wissens' zwischen Barock und Aufklärung zu: Die Relation von Bild und Text folgte nämlich keineswegs einer klaren Hierarchie im Sinne eines Primates oder einer unaufhaltsam fortschreitenden Aufwertung der Bilder bzw. Objekte als Folge eines empirischen Wissenschaftsverständnisses (wie es in dem vorliegenden Band gelegentlich den Anschein hat), sondern war unterschiedlichen, je nach Kontext bzw. Rezeption mehr oder weniger im Vordergrund stehenden Zwecken zugleich verpflichtet und daher auch entlang der Grammatiken mehrerer komplexer Bedeutungssysteme gleichzeitig organisiert bzw. encodiert. So zeigen die historiographischen Zwecken dienenden Text-Bild-Kombinationen, wie das von Bianchini zum Erlernen der Geschichte entworfene historische Kartenspiel und die Abbildungen der 'Istoria universale' von 1697, die ungebrochene Bedeutung mnemonischer Traditionen und Ordnungskonzepte, hinter denen die empirisch-chronologische Zuordnung der Artefakte und Abbildungen zurücktrat. Darüber hinaus kam diesen aber vor allem die Aufgabe zu, die Ordnungen der biblischen Heilsgeschichte, denen die 'Istoria' verpflichtet war, auch visuell zu enthüllen und damit - wie auch die 'Linea Clementina' in Santa Maria dell'Angeli - die christliche Kosmologie ad oculos zu bewahrheiten.
Die gerade im Beitrag von Dixon eher im Widerspruch zu ihrer These von der empirischen Funktion der Objekte aufscheinende Persistenz dieser Bedeutungssysteme um 1700 mag eine Erklärung liefern für die am Ende der Einleitung konstatierten "aus heutiger Sicht oft augenfälligen Widersprüche von Text und Bild". Für die angestrebte "Klärung der Konzepte von Objektivität, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Kritik im frühneuzeitlichen Wissenschaftsverständnis" bedarf es in jedem Fall der umfassenden, Bild und Text gleichermaßen einbeziehenden Rekonstruktion der diesen Bedeutungssystemen zugrundeliegenden Codes und Grammatiken, die auch die Ordnungen des Wissens in der frühen Neuzeit strukturierten. Der äußerst anregende, überdies großzügig illustrierte Band liefert dazu wichtige Bausteine, allerdings mit einer letztlich wohl doch disziplinär bedingten Schwerpunktsetzung auf den Bildern bzw. Objekten.
Markus Meumann