Irad Malkin: Mediterranean Paradigms and Classical Antiquity, London / New York: Routledge 2005, 149 S., ISBN 978-0-415-35635-0, GBP 60,00
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Die unhintergehbare Beziehung zwischen den Orientierungsbedürfnissen jeder Gegenwart und der Arbeit von Historikern produziert meist gleichzeitig Erhellendes und Überzogenes. Im vorliegenden Sammelband, einer Sondernummer der "Mediterranean Historical Review", findet sich beides nebeneinander. [1] Das hier diskutierte "Mittelmeermodell" verbindet erkennbar drei Ebenen: den (innerwissenschaftlich induzierten) "spatial turn" in den Kulturwissenschaften, die (politisch beeinflusste) Forderung, Beziehungs- und Interaktionsgeschichten größerer Räume und Zeiten nicht mehr mit hierarchisch-"kolonialen" Modellen zu analysieren, sowie die (lebensweltlich und handlungstheoretisch fundierte) Vorstellung des Netzwerkes als Grundfigur von Interaktion. Den konzeptionellen Anstoß gaben Fernand Braudels dreibändige Meistererzählung "La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philipp II" (Paris 1949, dt. 1990) sowie in jüngerer Zeit Peregrine Horden und Nicholas Purcell, "The Corrupting Sea" (Oxford 2000). [2] Genese und Varianten des beanspruchten neuen Paradigmas erklärt Malkins "Introduction" (1-8). Die sechs mit einem Index versehenen Aufsätze des (stark überteuerten) Bandes verstehen sich als Proben und kritische Weiterführungen.
I. Morris seziert die Voraussetzungen, die dem neuen, von "mobility, connectivity, and decentring" (37) definierten Modell zugrunde liegen. Das alte, von Max Weber und Moses Finley geprägte Bild der "Ancient Economy" hatte den Stadtstaat und sein Umland im Fokus, mit Sklavenwirtschaft und begrenztem überregionalem Austausch. Diese Parameter grenzten die griechisch-römische Welt vom Alten Orient und die Antike vom Mittelalter ab. Methodisch war es, so wäre hinzuzufügen, bestimmt vom Idealtyp, einem Evolutionismus und der generalisierenden Strukturgeschichte. "Where the old model emphasized static cells, rigid structures, and powerful institutions, the new one sees fluidity and connectedness" (31). Purcell bescheinigt dem von ihm definierten "borderless, mutable, uncentred Mediterranean" gar, die Forschung endlich befreit zu haben von totalitären (!) und hegemonialen Konzeptualisierungen und damit einen Weg zu "postcolonial investigations" zu weisen (22). Das Netzwerk ohne Anfang und Zentrum könne geradezu als Metapher postmodernen und postkolonialen Denkens gelten (Malkin, 56). Doch wesentliche Teile eines romantisierten Mittelmeerbildes gehörten noch vor nicht langer Zeit in einen Diskurs über Unterentwicklung, Rückständigkeit und schwache Staaten (G. Woolf, 128).
Die Gründe, warum dennoch gerade jetzt ein Paradigmenwechsel verkündet wird, liegen auf der Hand: Das Mittelmeer als Einheit ist seit dem Barcelona-Prozess politisch im Gespräch; das Fehlen benennbarer und unstrittiger Grenzen der Region lässt es als Gegenstand gerade attraktiv erscheinen, zumal geographische, zeitliche und disziplinäre Grenzen obsolet erscheinen. Vor allem ist es aber natürlich die Globalisierung, die Historiker in der Geschichte auch dieser Region "the same kind of connectedness that is convulsing our own world" (32) am Werk sehen lässt - das schließt die Frage nach Gewinnern und Verlierern ein. Ethnische Differenzen, feste Routen und politische, kulturelle oder ökonomische Gefälle, wie sie das (letztlich kolonialistisch konnotierte) Zentrum-Peripherie-Modell kennzeichneten, lösten sich auf in einer "constantly shifting, kaleidoscopic diaspora", einer antiken Postmoderne. Nicht zu schrecken scheint die Warnung davor, die neue Forschungsperspektive durch eine geographische Bezeichnung zu naturalisieren und damit zu ontologisieren, beides für G. Woolf "a common feature of ideological discourse" (128). Und neue Defizite drohen die alten abzulösen. Morris hält Horden und Purcell vor, die Kosten der "connectedness" von Menschen, Gütern und Ideen sowie generell Faktoren wie Konflikt, Ungleichheit und soziale Entwurzelung zu unterschätzen. Institutionen, Staaten und Imperien verschwinden auch dann nicht, wenn Jeder mit Allem vernetzt ist.
Das Problem der räumlich-territorialen Unschärfe von 'Mittelmeergebiet' geht Purcell offensiv an (9-29): Jeder Versuch, den Begriff zu verdinglichen ("to reify"), führe auf Abwege, weil klimatische, agrikulturelle oder ökologische Grenzziehungen als Teile einer kolonialistischen Wissensordnung nicht angemessen seien. Purcell überträgt kühn die antike Kritik an der Seefahrt als einer sozial und politisch verderblichen ("corrupting"), weil grenzenlosen und Ordnung zersetzenden Aktivität auf sein eigenes Paradigma, das den Wandel, die Transgression, die Unfestigkeit betone. Ränder erscheinen lediglich als Gradianten von Verbindung; not tue ein Vergleich miteinander vernetzter Ökonomien und Ökologien.
Jedes neue Modell muss seine Erklärungskraft in der Praxis beweisen. Der Bandherausgeber erörtert in diesem Sinne "Networks and the Emergence of Greek Identity" (56-74) und kommt zu zustimmungsfähigen, aber durchweg bekannten Ergebnissen. L. Foxhall präsentiert in "Cultures, Landscapes, and Identities in the Mediterranean World" (75-92) dagegen eine innovative These: Obwohl wir von der Landwirtschaft im archaischen Griechenland sehr wenig wissen, so erscheint es doch unmöglich, die so genannte Krise des 7. und 6. Jahrhunderts auf Landknappheit zurückzuführen. Vielmehr wurde viel Land nur wenig oder gar nicht genutzt, weil den Subsistenzbauern schlicht die menschliche und tierische Arbeitskraft fehlte, um mehr als etwa fünf Hektar zu bewirtschaften. Wenn in den Quellen von Landverteilung und gleich großen Losen die Rede sei, so beziehe sich letzteres immer auf Teilstücke, die an einem Tag zu pflügen waren und meist gute Qualität hatten, keineswegs auf Egalität des Gesamtbesitzes. Mit der Bewirtschaftung römischer Latifundien oder ottomanischer "çiftliks" hatte die bäuerliche Welt im archaischen und klassischen Hellas das "Tagwerk" als Flächenmaß gemeinsam - und nicht viel mehr. Selbst auf diesem Feld, im Dreieck von Mensch, Natur und Produktion, das älteren Mittelmeerkonstrukten als objektivierbares Definitionskriterium gedient hatte, zeigt sich also, dass "different cultures with different conzeptualizations of politics and place, society and space, have created landscapes with unique identities even directly on top of landscapes shaped by quite different ideals and ideologies" (89). Die "Mediterranisten" würden das wahrscheinlich gar nicht bestreiten. Aber was bleibt dann noch an Erklärungskraft?
B.D. Shaw charakterisiert den Maghreb als eine Region mehrerer Inseln zwischen der Sahara und dem Meer, in der Modernisierungen nachholend, dann aber schnell und sehr erfolgreich vonstatten gingen. Das Netzwerkmodell funktioniert hier nicht; die Maghreb-Gebiete waren jedenfalls anfangs jeweils "not integrated into any Mediterranean system or unity", sondern lebten weitgehend für sich. Die am Ende erreichte wirtschaftliche Prosperität bzw. die höchst erfolgreiche Christianisierung harren anderer Erklärungen; an anderer Stelle wird festgestellt, dass die "Mediterranean paradigms" für eine synchrone Analyse weit besser funktionieren als für diachrone Erklärungen von Wandel (Woolf, 131). Die von Shaw behauptete "Mediterranean dialectic between North Africa and the Mediterranean" (109) bleibt jedenfalls blass, zumal der Autor am Ende Isolation und Idiosynkrasie der nordafrikanischen Kirche unterstreicht. "It is as if these Christianities existed in two weakly linked but alien worlds" (115) - wohl kaum ein Beweis für die Allmacht der "connectivity".
G. Woolf schließlich ernüchtert, indem er dem Paradigma für Veränderungen auf dem Feld der Religion nur wenig Erklärungskraft zubilligt (126-143). Es gab keine mediterranen Charakteristika von Kult oder Glauben. Weder für die Ausbreitung des Mithraskultes an der Donau und in den Westprovinzen noch des Christentums bietet das Mittelmeer eine Erklärungshilfe. Abgesehen von diesem erfrischend negativen Ergebnis bietet Woolf einen hervorragenden Überblick zu den Stärken und Schwächen der gängigen religionsgeschichtlichen Richtungen.
Dieter Timpe hat kürzlich die Rede vom Mittelmeerraum als heuristisches oder analytisches Instrument zurückgewiesen; es fehle an Grenzen, innerer Einheit, prägender Kraft; man habe es immer nur mit Singularitäten zu tun und es gebe keinen Maßstab zum Typischen. [3] Wenn wir nach den Verflechtungen zwischen Griechen und Persern, Römern und Karthagern, hellenisierten Babyloniern und babylonischen Juden, Kelten und Germanen fragten, dann hülfen keine neuen, elaborierten Modelle, sondern nur eine kritische Bewusstmachung unseres Verhältnisses zur klassischen Tradition und ihren Verstehenskategorien. Gleichwohl: Zwar müssen gegenüber dem ganz großen Design erhebliche Zweifel bleiben, weil Zeitgeist und Politik (noch?) allzu prägend erscheinen. Doch ist die Nützlichkeit des Braudel'schen Instrumentariums damit nicht geleugnet. Sinnvoll redimensioniert - etwa auf die sog. "kleinen Meere" - und auf geeignete Felder angewandt - Handel und politische Interaktion - verspricht es bemerkenswerte Erkenntnisfortschritte.
Anmerkungen:
[1] Eine sehr viel ausführlichere Fassung dieser Besprechung findet sich in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 10 (2007), 1047-1053, URL: http://gfa.gbv.de/dr,gfa,010,2007,r,06.pdf (26.9.2007).
[2] Die Diskussion begann mit W.V. Harris (ed.): Rethinking the Mediterranean, Oxford 2005; s. die Rezension von Norbert Kramer, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/12/8062.html
[3] Dieter Timpe: Der Mythos vom Mittelmeerraum: Über die Grenzen der alten Welt, in: Chiron 34 (2004) 3-23.
Uwe Walter