Rezension über:

Helma Lutz / Kathrin Gawarecki (Hgg.): Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft (= Niederlande-Studien; Bd. 40), Münster: Waxmann 2005, 206 S., ISBN 978-3-8309-1491-4, EUR 29,90
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Rezension von:
Georgios Chatzoudis
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Susanne Lachenicht
Empfohlene Zitierweise:
Georgios Chatzoudis: Rezension von: Helma Lutz / Kathrin Gawarecki (Hgg.): Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft, Münster: Waxmann 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/11049.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Migrationen" in Ausgabe 7 (2007), Nr. 11

Helma Lutz / Kathrin Gawarecki (Hgg.): Kolonialismus und Erinnerungskultur

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Der von Helma Lutz und Kathrin Gawarecki herausgegebene Band Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft reiht sich ein in die vergleichende Kolonialforschung der letzten Jahre, die eine transnationale Sicht auf die koloniale Vergangenheit zum Ziel hat.

Bereits der Titel des 2005 erschienen Bandes deutet drei zentrale Vorüberlegungen der Herausgeberinnen an: 1. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist heute vor allem eine Frage der Erinnerungskultur. 2. Eine vergleichende Betrachtung sowohl der kolonialen Praxis ehemaliger Kolonialmächte als auch ihres Umgangs mit der kolonialen Vergangenheit führt aus der national geprägten Geschichtssackgasse heraus. 3. Deutschland und die Niederlande entwickeln sich zunehmend zu multinationalen Einwanderungsgesellschaften, denen nur ein Geschichtsverständnis frei von nationalen Scheuklappen bzw. ein transnationales Geschichtsbild gerecht werden kann.

Entstanden ist der Sammelband aus der 2004 in Münster abgehaltenen interdisziplinären Tagung Postkolonialismus und Erinnerungskultur. Blinde Flecken im kollektiven Gedächtnis der Niederlande und Deutschlands? an der 120 Wissenschaftler aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz teilnahmen. In den zwölf Aufsätzen des Bandes gehen Pädagogen, Soziologen, Literaturwissenschaftler und Historiker der Frage nach, wie beide Gesellschaften öffentlich an ihre koloniale Vergangenheit erinnern und welchen Beitrag insbesondere die Pädagogik und die Literaturwissenschaft leisten können, um zu einer (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte zu gelangen.

Die kollektive Erinnerung ist ein "ein hart umkämpftes Politikum" (16), in dem um die Bedeutung und Interpretation des Vergangenen gerungen wird. Dementsprechend treten die Herausgeberinnen Helma Lutz und Kathrin Gawarecki mit deutlichen Positionen in die Arena der Erinnerungen ein. In ihrer programmatischen Einleitung stellen sie zunächst fest, dass die Kolonialvergangenheit der europäischen Nationalstaaten ein wichtiger Teil der europäischen Identität ist. Trotzdem gehöre der Prozess der europäischen Expansion mit seinen für die kolonisierten Gesellschaften hohen politischen, wirtschaftlichen und mentalen Kosten und Folgekosten nicht zur Erinnerungskultur Europas. Im Gegenteil: Die Niederlande und Deutschland leiden bis heute an einer weitgehenden gesellschaftlichen Amnesie, wenn es um die eigene koloniale Vergangenheit geht.

Einen schlüssigen Grund dafür bietet der Pädagoge Rudolf Leiprecht in dem einzigen komparatistischen Beitrag des Bandes. Sein Vergleich deutscher und niederländischer Bildungsinstitutionen kommt zu dem Ergebnis, dass die Kolonialgeschichte, wenn überhaupt, nur undifferenziert thematisiert wird. So wird in den Niederlanden die eigene koloniale Vergangenheit bis heute nahezu ungebrochen heroisiert.

Die Beiträge des Historikers Gert Oostindie und der Niederlandistin Kathrin Gawarecki zeigen, dass die niederländische Gesellschaft noch am Anfang der Aufarbeitung ihrer Kolonialvergangenheit steht. Mit dem Titel "Fragmentierte 'Vergangenheitsbewältigung'" spielt Gert Oostindie auf die selektive Aufarbeitung der niederländischen Kolonialgeschichte an: Heroisierung des Goldenen 17. Jahrhunderts mit den Niederlanden als bedeutendster Handelsnation auf der einen und Schweigen über die rücksichtslose Durchsetzung der Kolonialpolitik auf der anderen Seite.

Kathrin Gawarecki weist in ihrer präzisen Analyse des 400-jährigen Jubiläums der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC) nach, dass der koloniale Blick sowie koloniale Argumentationsmuster in den Niederlanden bis heute nicht überwunden sind. Ihre Untersuchung zeigt, wie die Geschichte der VOC in der offiziellen und von den Medien reproduzierten Gedenkkultur von der Kolonialherrschaft entkoppelt und insgesamt heroisiert wird. Gawarecki kommt dabei zu dem Schluss, dass der nach wie vor dominierende koloniale Blick es ermöglicht, "die Geschichte der VOC zu erinnern, ohne sich konsequent auch mit dem Kolonialismus auseinander zu setzen." (179)

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Anne Kerber, die bei ihrem Vergleich aktueller deutscher Geschichtsschulbücher die Dauerhaftigkeit von kolonial geprägten Begrifflichkeiten und Sichtweisen feststellt.

Darüber hinaus hat in Deutschland nach Ansicht der Herausgeberinnen das nahezu ausschließlich auf die Massenvernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten verengte Opfergedenken ("negatives Gedenken") dazu geführt, dass "der deutsche Kolonialismus hinter dem Nationalsozialismus verschwunden ist oder von diesem verdeckt wird." (10)

Ob die Forderung des Soziologen Reinhart Kössler in seinem Beitrag über den deutschen Kolonialkrieg in Namibia, die Kontinuitäten zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Herrschaftspraxis herauszustreichen, hilfreich dabei sein kann, die koloniale Vergangenheit zu erinnern, ist zumindest zweifelhaft.

Der Historiker Matthias Heyl befürchtet in seinem Aufsatz zu Recht, dass die Debatte über Kontinuitäten zwischen kolonialen Völkermorden und der Vernichtung der europäischen Juden eher zu einer einebnenden Verrechnung führen könne. Die deutsche Kolonialepoche als Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu begreifen, könnte auf eine Verlängerung des Nischendaseins der deutschen Kolonialgeschichte hinauslaufen.

Der Band stellt insgesamt viele längst überfällige Fragen und liegt auch mit seiner Diagnose einer hinsichtlich der kolonialen Vergangenheit vom Vergessen geprägten Erinnerungskultur in Deutschland und in den Niederlanden richtig. Darüber hinaus wird besonders deutlich, dass das Konzept der Erinnerung eine heuristische Funktion haben kann: Als Methode, um das offizielle bzw. vorherrschende Geschichtsbild zu aktualisieren bzw. um ein anderes Geschichtsbild sichtbar zu machen.

Die Stärken des Bandes liegen vor allem in der Fragestellung und in dem begründeten Vorhaben, über einen komparatistischen Ansatz zu einer transnationalen Betrachtungsweise zu kommen. Dieses Versprechen wird jedoch leider nicht konsequent eingelöst. Ein Defizit, das vielen Ansätzen einer transnationalen Geschichtsschreibung eigen ist, die sich leider oft in einer Addition sinnverwandter Beiträge erschöpfen.

In dem besprochenen Band wird diese Schwäche jedoch weitgehend von der lesenswerten und argumentativ schlüssigen Einleitung des Bandes kompensiert, die die elf folgenden Beiträge insgesamt zusammenhält. Uneingeschränkt gelungen ist das Anliegen der Herausgeberinnen, "einen Beitrag zur Bewusstwerdung über die Komplexität der Erinnerungsdebatten" (21) zu leisten. Ihrem Wunsch, neue Diskussionen und Forschungsprojekte dadurch anzustoßen, kann man sich im Sinne einer im Aufbau begriffenen selbstkritischen europäischen Identität nur anschließen.

Georgios Chatzoudis