Axel Heimsoth: Die Wiederentdeckung des Hellwegs. Regionale Identität im Spiegel verkehrspolitischer Diskussionen bis zum Bau der Dortmund-Soester Eisenbahn, Essen: Klartext 2006, 321 S., ISBN 978-3-89861-591-4, EUR 34,90
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Die vorliegende Studie wurde 2005 vom Fachbereich Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen als Dissertation angenommen und stellt einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Frühindustrialisierung und des Eisenbahnwesens dar. Obwohl die Literatur zur Eisenbahngeschichte in der Industrialisierung in ihrer Gesamtheit kaum mehr überschaubar ist und auch für den Raum zwischen Rhein und Weser einen beachtlichen Umfang angenommen hat, gelingt es Heimsoth, neue Perspektiven zu eröffnen. Denn in seiner Untersuchung geht es nicht, wie so häufig, um technische Details, um Trassenführungen, Lokomotiven, Stellwerke und Bahnhöfe. Vielmehr stellt er die Frage nach der Entstehung von Eisenbahnen vor dem Hintergrund von wirtschaftlichen Interessen und regionaler Identität. Gleichzeitig richtet er den Blick auf eine Region, die im Kontext der verkehrspolitischen und strukturellen Diskussionen des 19. Jahrhunderts eher eine untergeordnete Rolle spielte.
Tatsächlich verfügte der Hellweg als wichtige mittelalterliche Handelsstraße vom Niederrhein nach Westfalen über eine lange Tradition. Entsprechend wendet sich der Verfasser zunächst der Definition des Hellwegs in etymologischer, geographischer und historischer Perspektive zu und verweist quellenkritisch auch auf die Schwierigkeiten, etwa im Hinblick auf den Streckenverlauf dieser wichtigen Ost-West-Handelsstraße. Den Schwerpunkt setzt er im Folgenden auf die Region zwischen Dortmund, Soest und Paderborn, deren wirtschaftliche Bedeutung auf Getreideanbau und Salzgewinnung gründete.
Heimsoth beschreibt detailliert die Ausgangslage am Beginn der Industrialisierung. Während die Region von den staatlichen Infrastrukturmaßnahmen im Zuge des durch den Oberpräsidenten Ludwig von Vincke nachhaltig betriebenen Landesausbaus Westfalens nach 1815 durchaus profitieren konnte, war zu Beginn des Eisenbahnzeitalters von staatlichen Aktivitäten hinsichtlich des neuen Verkehrssystems kaum etwas zu spüren. Leider geht Heimsoth auf die staatlichen Beweggründe für die allgemein in Preußen festzustellende Zurückhaltung kaum ein - die Forderung nach Eisenbahnen kam für den preußischen Staatshaushalt zu einem ungünstigen Zeitpunkt, an dem der Ausbau von Chausseen und Flüssen bereits beträchtliche Mittel verschlungen hatte. Demzufolge wurden die frühen Eisenbahndiskussionen zunächst fast ausschließlich von privaten Interessenten getragen.
Mit der Untersuchung der Aktivitäten zum Anschluss des Hellwegraums an das neue Verkehrssystem bietet Heimsoth eine Fallstudie über die Artikulierung von regionalen Verkehrsinteressen und die Formierung von Komitees zur Realisierung wichtiger Eisenbahnverbindungen. So werden nicht nur die Beweggründe und Konzepte der handelnden Personen, allen voran Friedrich Harkort, detailliert ausgeführt, auch die Behandlung der Eisenbahnfrage durch die unterschiedlichen westfälischen Provinziallandtage wird eingehend untersucht.
Leider muss aber festgestellt werden, dass angesichts der durch den Rückgriff auf die archivalische Überlieferung material- und kenntnisreich ausgeführten Positionen und Aktivitäten der regionalen, häufig konkurrierenden Kommitees die eigentlichen Adressaten der Eingaben sowie die zeitgleich agierenden Vertreter abweichender wirtschaftlicher und regionaler Interessen in den Hintergrund der Untersuchung treten. So wird die Rolle des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. in einem eigenen Kapitel behandelt, greift aber zur Erklärung der staatlichen Eisenbahnpolitik deutlich zu kurz. Auch konkurrierende Projekte, die gerade im westlichen Bereich der Rhein-Weser-Eisenbahn zu erheblichen Konflikten führten, werden kaum zur Sprache gebracht. Dies ist bedauerlich, da die dort aktiven Protagonisten August von der Heydt, Ludolf Camphausen und David Hansemann anders als Friedrich Harkort zu höchsten Staatsämtern aufstiegen und so in Berlin wesentlichen Einfluss auf die Geschicke des preußischen Eisenbahnwesens nehmen konnten. Tatsächlich gerieten die Orte Unna und Werl im Verlauf der Diskussionen um die Trassenführung der Köln-Mindener und der Westfälischen Eisenbahn ins Abseits. Es bedurfte neuer regionaler Vorstöße und der Schaffung einer "Hellweg-Identität", um schließlich den Bau der 1855 eröffneten Dortmund-Soester Eisenbahn durchzusetzen. Hier wäre abermals eine Ausweitung der Fragestellung denkbar gewesen: Welche Bedeutung hatte das Salz als Transportgut?
Bildeten in der merkantilistischen und frühindustriellen Phase Steinkohle und Salz eine wichtige Grundlage des wirtschaftlichen Handels, so ging die Bedeutung des Salzes im Verlauf des 19. Jahrhunderts zurück. Und durch die neuen Ost-West-Verbindungen konnte Getreide auch aus weiter entfernt liegenden Regionen bezogen werden - ein Faktor, der für das aufstrebende Ruhrgebiet von immer größerer Bedeutung werden sollte. Hier wäre entsprechend die Frage zu stellen, inwieweit sich die Lobby-Arbeit der Hellweg-Kommitees letztlich als kontraproduktiv erwies, weil sie den Konkurrenzdruck erhöhte.
Während Heimsoth nachweist, dass der Hellweg als Identität stiftender regionaler Faktor im Zuge der Eisenbahndiskussion schließlich bewusst eingesetzt wurde, ist seine Aussage, der Begriff hätte in der seit 1856 sich entfaltenden Kanaldiskussion zwischen Rhein und Weser keine Rolle mehr gespielt (266), nicht zutreffend. Tatsächlich trafen hier auf einem sich ab 1856 entwickelnden Nebenschauplatz der Infrastruktur-Diskussion ganz unterschiedliche Interessentengruppen aufeinander. Auf der einen Seite standen die Befürworter einer an historisch gewachsenen - und seit der Eisenbahndiskussion wieder in die Öffentlichkeit präsenten - Strukturen orientierten Linienführung um Friedrich Harkort und den Dortmunder Kreisbaumeister Carl von Hartmann, deren Konzept durchaus als "Kanalisierung des Hellwegs" propagiert wurde, auf der anderen Seite stand die sich zur selben Zeit formierende Interessen-Vertretung der Bergbau-Industrie, die einen Kanal durch das Emschertal favorisierte.
Eine genauere Untersuchung dieser Diskussion zwischen traditionell geprägten Hellweg-Befürwortern und pragmatischen Industrie-Interessenten vermag der Verwendung des Hellweg-Begriffs und die Schaffung einer spezifischen regionalen Identität einen weiteren Aspekt hinzufügen, der nicht allein hinsichtlich der unterschiedlichen Intentionen der Kontrahenten interessant ist, sondern auch, weil hier wichtige Erkenntnisse über die Bedeutung von Interessengruppen und letztlich über die Formierung neuer Eliten zu gewinnen sind. In dieser Beziehung bietet die Auseinandersetzung mit der Frühphase der Eisenbahnen der Forschung noch ein reiches Betätigungsfeld. Zweifellos hat Axel Heimsoth für derartige Untersuchungen wichtige Erkenntnisse beigetragen und neue Perspektiven eröffnet.
Olaf Schmidt-Rutsch