Maurice Crosland: Scientific Institutions and Practice in France and Britain, c.1700 - c.1870, Aldershot: Ashgate 2007, xv + 270 S., ISBN 978-0-7546-5913-6, GBP 60,00
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Aufsätze aus Zeitschriften oder Sammelbänden zu kopieren, welche die nächste Instituts-, Universitäts- oder Staatsbibliothek gerade nicht hält oder ausgeliehen hat, kann zu einem zeit-, kosten- und nervenaufreibenden Unternehmen werden, auch in Zeiten von teilweise online verfügbaren Volltexten und Dokumentenlieferdiensten. Zu 12 zwischen 1992 und 2006 andernorts publizierten Aufsätzen des britischen Wissenschaftshistorikers Maurice Crosland (geb. 1931, Professor emeritus an der University of Kent) gibt es nun einen bequemeren, ansprechend in Leinen gebundenen, freilich auch rund 100 € teuren Zugang. Der vorzustellende Band erweitert die 1970 begründete Variorum-Reihe, die in einem Teilsegment erlesene Aufsatzsammlungen zur Geschichte der Naturwissenschaften (inklusive Technik und Medizin) aus der Feder bekannter englischsprachiger Autoren bereithält - Robert Fox, Jack Morrell, Richard Yeo, Roy MacLeod und schon einmal Maurice Crosland darunter. [1] Etwas gewöhnungsbedürftig ist zunächst die Praxis, die mit fortlaufenden römischen Ziffern versehenen Aufsätze sonst in rein faksimilierter Form abzudrucken, also mit der ursprünglichen Paginierung und mit differierenden Schrifttypen.
Auch sonst ist der Eindruck der Buchbindersynthese nicht von der Hand zu weisen. Der Autor verzichtet in seinem vierseitigen Vorwort, vielleicht allzu vornehm zurückhaltend, auf das Ausziehen größerer Linien, und der dem Band beigegebene, ebenfalls bloß vierseitige Index ist leider sehr lückenhaft und keine wirkliche Hilfe beim Aufspüren möglicher (und wirklicher!) Querverbindungen. Zudem ist es bei der Anlage des Bandes kaum vermeidbar, dass es verschiedentlich zu thematischen Überschneidungen bzw. Redundanzen kommt, wenn die Beiträge auf die gleichen Personen, Daten, Zusammenhänge oder Literatur rekurrieren. Schließlich schlägt sich die Anlassgebundenheit der Texte in den meisten Fällen nieder; so unterscheidet sich "Relationships between the Royal Society and the Académie des Sciences in the late 18th century" (Text I des Bandes), ein ursprünglich 2004 in Potsdam gehaltener, thesenfreudiger Vortrag, in "scope" und Argumentationsstil doch deutlich von dem panoramatischeren "The organisation of chemistry in 19th-century France" (Text VI), einem Handbuchartikel von 1998. Ungeachtet dieser formalen Einschränkungen, lohnen die einzelnen Aufsätze die Lektüre aber allemal.
Unverkennbar ist die Reife, Behutsamkeit und Reflektiertheit des Autors, der sich dem Gegenstand seit fast einem halben Jahrhundert zuwendet. Die früheren "Schulgrenzen" zwischen "Internalisten" versus "Externalisten" ignoriert bzw. überschreitet Crosland souverän und zeigt immer wieder am spezifischen Kontext auf, wie wissenschaftliche Praxis und Theoriebildung von politischen, institutionellen oder auch linguistischen Faktoren beeinflusst wurden, jedoch nicht allein in diesen aufgingen. Ein naheliegender Kontextparameter für seine beiden "Probanden" - die französische(n) und britische(n) Wissenschaft(ler) im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert - ist die andauernde Rivalität, die sich in verschiedenen Ethiken, Zugangs- und Finanzierungsweisen bis hin zu gegenseitiger Spionage und kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern ausdrücken konnte. Diesen geradezu idealtypischen Unterschieden geht Crosland nach, ohne sich mit einfachen Ableitungsschemata zufrieden zu geben; die Vorstellung einer völligen Abhängigkeit der Wissenschaft von den politischen Umständen ist ihm nicht weniger suspekt als apodiktische Behauptungen in die entgegengesetzte Richtung wie "The sciences never were at war" (so der ein Diktum Joseph Banks' aufgreifende, plakative Titel einer Untersuchung des britischen Zoologen Gavin de Beer von 1960).
Die Mehrzahl der Aufsätze rückt die Wissenschafts- und namentlich die Chemiegeschichte seit dem späten 18. Jahrhundert in den Vordergrund; "große Namen" wie Lavoisier, Laplace, Berthollet, Gay-Lussac, Dumas, Pasteur und Wurtz - aber auch Black, Priestley, Davy und Faraday - kommen dabei ebenso zur Sprache wie die Entstehungsbedingungen ihrer Arbeiten. Besonders inspirierend erscheinen die gelegentlichen Versuche, diesen ins allgemeiner Kulturgeschichtliche zu weiten wie in "Popular science and the arts: challenges to cultural authority in France under the Second Empire" (VII, ursprünglich 2003 publiziert). Dort vergleicht Crosland die seit den 1850er Jahren vermehrten, namentlich von Publizisten und Nachwuchswissenschaftlern unternommenen Bemühungen, wissenschaftliche Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und damit die geradezu arkan-exklusive Zuständigkeit der etablierten Pariser Institutionen in Frage zu stellen mit den zeitgenössischen Pluralisierungsbestrebungen im Bereich der bildenden Künste und der Literatur. Auch die bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein auffindbaren kulturellen Vorbehalte gegenüber spezialisierten Laboratorien als Orten manueller Arbeit und naturentrückter Künstlichkeit zeichnet er in anregender Manier nach (VIII, Zeitschriftenaufsatz von 2005).
Immer wieder zur Sprache kommt die "französische Revolution" des späten 18. Jahrhunderts: die politisch-soziale (zumindest als "common context"; IV, 101), vor allem aber diejenige in der Chemie, wie sie von Lavoisier und seinen Mitstreitern ausging, eine neue Nomenklatur und disziplinäre Strukturen herbeiführte, in ihren Ergebnissen und Anwendungsmöglichkeiten ganz neue Möglichkeiten schuf. An der Person Antoine Laurent Lavoisiers, der zunächst in der höheren Verwaltung des Ancien Régime für Tabaksteuer und Schiesspulver zuständig war und sich in dieser Position als Beamter Freiräume und Förderung für seine chemischen Experimente zu verschaffen vermochte, wird zudem deutlich, wie eng Politik und Wissenschaft zusammenhängen konnten. Die von ihm und seinen Schülern durchaus konzertiert betriebene "Durchsetzung" des Sauerstoffs als weithin akzeptiertes chemisches Element um 1800 konnte wiederum politisch grundierte Vorbehalte hervorrufen; so verwahrte sich der britische Chemiker Humphry Davy entschieden gegen "the imperial despotism of oxygen" (zit. IV, 114).
Croslands Aufsätze halten zahlreiche weitere feinfühlige Beobachtungen zur wissenschaftlichen Praxis und ihren Kontextbedingungen bereit: zu den "Difficult Beginnings in Experimental Science at Oxford: the Gothic Chemistry Laboratory" (XII, Aufsatz von 2003), zur Herstellung von Laborapparaturen, zur Verleihung von Preismedaillen, zu den Implikationen der Phlogistontheorie, zu Publikationsstrategien, zur Herausbildung von "research schools" in den Naturwissenschaften. Oft sind es die unscheinbar miniaturenhaft daherkommenden Details, welche die Augen öffnen und zu Übertragungen auf vergleichbare Fälle anregen. Der Autor geht grundsätzlich von der nationalen Verfasstheit wissenschaftlicher Kulturen aus und ist dabei, anders als seine Protagonisten vor zwei Jahrhunderten, um möglichst ausgewogene Urteile bemüht; die Herangehens- und Darstellungsweise ist unterdessen "unmistakably British".
Anmerkung:
[1] Maurice Crosland: Studies in the Culture of Science in France and Britain since the Enlightenment, Aldershot 1995.
Marc Schalenberg