Rezension über:

Annemarie Firme / Ramona Hocker (Hgg.): Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld: transcript 2006, 301 S., ISBN 978-3-89942-561-1, EUR 28,80
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Rezension von:
Andrea Meissner
Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Meissner: Rezension von: Annemarie Firme / Ramona Hocker (Hgg.): Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld: transcript 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/12383.html


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Annemarie Firme / Ramona Hocker (Hgg.): Von Schlachthymnen und Protestsongs

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Nachdem die neuere Kulturgeschichte im Zeichen des "linguistic turn" zunächst dazu aufgerufen hatte, die sprachlich-diskursiven Dimensionen des Historischen und deren Angewiesenheit auf mediale Vermittlung ernst zu nehmen, beginnt sie nun allmählich auch die bildlichen und performativen Aspekte kultureller Symbolproduktion genauer zu untersuchen. Doch obwohl die Erkundung der auditiven Erfahrungswelt des Menschen zweifellos ebenfalls ein Desiderat darstellt, verschafft sich der Ruf nach einem "acoustic turn" der Kulturwissenschaften bislang nur vereinzelt Gehör. [1]

Zu begrüßen ist daher gerade aus kulturgeschichtlicher Sicht das Erscheinen des vorliegenden Sammelbandes, der sich dem Verhältnis von Musik und Krieg aus musikwissenschaftlicher Perspektive widmet, aber im Titel auch den Anspruch erhebt, einen kulturhistorischen Beitrag zu leisten. Der Band ist aus dem 20. Internationalen Studentischen Symposium "Musik und Krieg" hervorgegangen, das 2005 vom Dachverband der Studierenden der Musikwissenschaft e.V. an der Universität Tübingen veranstaltet wurde. Es wird ein breites Themenspektrum von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart vorwiegend aus dem europäischen und amerikanischen Raum abgedeckt; ein Aufsatz (von Tala Jarjour) widmet sich einer spezifisch syrisch-christlichen Musiktradition.

Der Themenblock zur Frühen Neuzeit wird von zwei Beiträgen (von Silke Wenzel und Ute Abele) zu Landsknechtsliedern im Kontext der stadtbürgerlichen Gesellschaften in Deutschland und Florenz zwischen dem Ende des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts eröffnet. Beide Male zeigt sich, dass die Figur des Landsknechts als "Repräsentant des Krieges" (43) hochgradig ambivalent war: Verbreitete er einerseits Angst und Schrecken, so strahlte er als das außerhalb der zivilen Normen stehende gänzlich "Andere" doch auch eine nachhaltige Faszination aus. Der Aufsatz von Abele macht zudem deutlich, dass Karnevalslieder nicht als Produkte einer "Volkskultur" angesehen werden können, sondern Elaborate bürgerlicher und adliger Dichter waren, zu deren Vertonung teilweise namhafte Komponisten angeheuert wurden.

Ein weiteres Duo von Aufsätzen befasst sich mit der Battaglia, die in der Frühen Neuzeit zu den beliebtesten Musikgenres gehörte und deren Traditionslinie bis ins 19. Jahrhundert hinein reicht. Gregor Hermann gelingt es, den musikwissenschaftlichen Ansatz mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen zu verbinden: Er weist die Aneignung dieses ursprünglich aristokratischen Genres durch das Stadtbürgertum und seine Einbindung in die städtische Festkultur nach, was mit der zunehmenden Beteiligung der Bürger an den Kampfhandlungen korrespondierte. Darko Bunderla zeigt in der Analyse von Beethovens Symphonie "Wellingtons Sieg", deren Uraufführung im Dezember 1813 als Benefizkonzert für invalide Soldaten ein phänomenaler finanzieller und propagandistischer Erfolg war, wie sehr die Battaglia auch noch am Beginn des 19. Jahrhunderts ungeachtet aller ästhetischen Debatten um die "absolute" Musik den Publikumsgeschmack traf. Dies liefert ein überzeugendes Beispiel dafür, dass die Musikwissenschaft, wenn sie kulturgeschichtlich die Bedeutung von Musik in ihrem zeitgenössischen Kontext zu erfassen sucht, nicht mehr die um 1800 etablierte ästhetische Norm einer "absoluten" Musik anlegen kann, die weder Außermusikalisches abbilden noch politischen Zwecken gehorchen will. Dann wird auch eine "Gelegenheitsmusik" wie Beethovens Komposition als historische Quelle relevant.

Eine Gruppe von Beiträgen geht näher auf die Nationalisierung und politische Funktionalisierung, aber auch auf widerständische Potenziale von Musik im Zeitalter der Weltkriege ein. Miriam Wendling und Oliver Hebestreit legen dar, wie gerade die Oper im Ersten Weltkrieg als Repräsentantin ihrer jeweiligen Herkunftsnation gesehen und die Musik der jeweiligen Feinde aus dem Repertoire der amerikanischen und deutschen Opernhäuser zu eliminieren gesucht wurde. Dabei überrascht, wie intensiv der Kulturtransfer auf den Opernbühnen vor dem Ersten Weltkrieg gewesen war (Wagners "Lohengrin" war an der New Yorker Metropolitan Opera vor 1917 bereits ganze 307 mal aufgeführt worden!), und dass das deutsche Publikum nicht bereit war, auf die ausländischen Opernklassiker zu verzichten, ja dass der Anteil ausländischer Werke an den Opernproduktionen teilweise sogar noch beträchtlich anstieg. Die mit dem Kriegsausbruch einsetzende Selbstberauschung des deutschen bürgerlichen Publikums an patriotischen Operetten-Machwerken flaute bereits 1915 rapide ab und machte Platz für unpolitische nostalgische Rückblicke auf die Biedermeierzeit. Darin zeichnet sich ein Bewältigungsmuster ab, aus dem sich in weiteren Forschungen Vergleichsperspektiven auf die zweite Nachkriegszeit entwickeln ließen.

Die Notwendigkeit, gerade in die Medienkulturgeschichte musikologische Kompetenz einzubringen, wird von Stefan Strötgens Aufschlüsselung der bislang von der Forschung vernachlässigten Filmmusik zu Leni Riefenstahls Parteitagsfilm "Triumph des Willens" besonders schlüssig vor Augen geführt. Riefenstahl kalkulierte die emotionale und propagandistische Wirkungsmächtigkeit von Musik, insbesondere von Märschen als Mittel zur Formierung der Massen und zur Stimulierung militärischer Opferbereitschaft, sehr bewusst ein. Auffällig ist, welch hohen Stellenwert musikalische Anspielungen auf die antinapoleonischen Befreiungskriege hatten, wenn es um die Einstimmung auf das Selbstopfer für das "Dritte Reich" ging. Dies ist auch bei den nationalsozialistischen Propagandakompositionen Gottfried Müllers erkennbar, die von Gunnar Wiegand erläutert werden. Deren "pseudo-religiöse Begriffssphäre" (182) ist durchsetzt von Bezugnahmen auf die Befreiungskriegslyrik, die von Wiegand jedoch nicht näher herausgearbeitet werden. Hier hätte sein Ansatz von den geschichtswissenschaftlichen Arbeiten profitieren können, die darauf aufmerksam machen, dass die religiöse Aufladung des Sterbens für die Nation seit den Befreiungskriegen eine zentrale Traditionslinie des deutschen Nationalismus bildete.

Wie Reinhold Degenhart am Beispiel von Amadeus Hartmanns 1934/35 komponierter Oper "Simplicius Simplicissimus", Stefan Morent anhand von Benjamin Brittens 1962 vollendetem "War Requiem" und - am Ende des Bandes - Till Knipper an Klaus Hubers Lied "A Voice from Guernica" von 2003 vorführen, bietet die Musiktradition eine Reihe von Mitteln, Protest gegen oder Trauer über den Krieg und seine Folgen zu formulieren. Ein typisches Muster ist hierbei der Rückgriff auf die Musik der (jüdischen oder arabisch-irakischen) Opfer von Gewalt, um Verbundenheit mit den zu Feinden Erklärten auszudrücken.

Eine letzte Gruppe von Aufsätzen befasst sich mit der Kommerzialisierung des Kriegsthemas in der gegenwärtigen Unterhaltungskultur. Sophie Bertone und Miriam Graf legen das technische und musikalische Raffinement frei, mit dem heutige Kinobesucher in die kriegerischen Welten der "Star Wars"-Serie gleichsam eingetaucht werden. Sarah Chakers Untersuchung zum Black and Death Metal und Lothar Heinles Ausführungen zu Jimi Hendrix' Version der amerikanischen Nationalhymne führen zu der Einsicht, dass die Intentionen des Komponisten und die Rezeption von Musik durch das Publikum auch durchaus konträr sein können, weshalb die werkimmanente musikologische Analyse nur ein Teil der kulturgeschichtlichen Arbeit sein kann.

Der Sammelband bietet somit eine Vielzahl minutiöser musikwissenschaftlicher Detailanalysen, die auch für Historiker anregend und aufschlussreich sind, selbst wenn der geschichtswissenschaftliche Forschungsstand nur sporadisch berücksichtigt wird. Da die Themen der Beiträge breit gestreut sind und durch die gemeinsame Themenstellung "Musik und Krieg" nur recht lose verbunden werden, wäre eine engere Verklammerung und eine Einbindung in den kulturgeschichtlichen Forschungsstand in der Einleitung des Sammelbandes wünschenswert gewesen.

Während einige Aufsätze sich auf die werkimmanente Analyse beschränken, gelingt es anderen, darüber hinaus vorzuführen, in welche Richtung eine interdisziplinär von der Kulturgeschichte inspirierte Musikforschung weitergehen sollte: Es gilt zu fragen, in welche spezifischen sozialen und politischen Konstellationen die Komposition und Darbietung von Musik eingebunden sind, in welchen medialen und performativen Formen ihre Präsentation stattfindet, inwiefern auch das Zuhören eine kulturell präformierte Praxis darstellt, und nicht zuletzt auch, wie Musik durch das Publikum in wechselnden historischen Kontexten jeweils rezipiert und gedeutet wird. Dass Musik keineswegs nur immanenten ästhetischen Spielregeln folgt, sondern oft genug eine hochpolitische und "kriegswichtige" Angelegenheit war und ist, führt dieser Sammelband sehr deutlich vor Augen. [2] Der Anfang einer musikologisch informierten Kulturwissenschaft ist gemacht, es bleibt aber noch viel zu tun.


Anmerkungen:

[1] 2006 veranstaltete die Muthesius-Kunsthochschule Kiel eine Tagung unter dem Titel "Acoustic Turn". Die Beiträge sind soeben erschienen: Petra M. Meyer (Hg.): Acoustic Turn, Paderborn 2007.

[2] Das Verhältnis von Musik und Krieg findet in jüngster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit, vgl. etwa: Susanne Rode-Breymann (Hg.): Krieg und Frieden in der Musik. Hildesheim u.a., 2007, sowie demnächst: Cord Arendes / Jörg Peltzer (Hgg.): Krieg. Vergleichende Perspektiven aus Kunst, Musik und Geschichte. Heidelberg, 2007.

Andrea Meissner