Monika Schrader: Laokoon - "eine vollkommene Regel der Kunst". Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe (= EUROPAEA MEMORIA. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen. Reihe I: Studien; Bd. 42), Hildesheim: Olms 2005, 194 S., ISBN 978-3-487-12909-9, EUR 29,80
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Ein Artefakt - als ursächlicher Bezugspunkt eines reichen visuellen und kommunikativen Austauschs - wird nicht erst dann diskussionswürdig, wenn es sich bei ihm um den Laokoon handelt und die Betrachter zu den prominentesten Vertretern der schreibenden Zunft im 18. Jahrhundert zählen. Wird der idealschöne Körper des leidenden Priesters zur zentralen Herausforderung und zum Ursprung klassizistischer Ganzheitsästhetik, bildet der Laokoon nicht nur den Gegenstand für Überlegungen zur Mediendifferenz, sondern die ideale Projektionsfläche kunsthistorischer und philosophischer Schriften: Monika Schrader verspricht in ihrer Abhandlung, die Entwürfe einer "ästhetische[n] Theorie der Heuristik" vorzustellen, die in der wiederholten Auseinandersetzung mit einer "vollkommene[n] Regel der Kunst" entwickelt wurden: Eine Theorie der Heuristik, eine Kombinatorik also, um Neues zu finden, die als "ästhetische" firmiert, mag ein Desiderat sein, das in einem spielerischen wie bewussten Umgang mit Elementen der Skulptur und den Vorgaben literarischer Überlieferung an Kontur gewönne. Aber der Untertitel trügt. Im Mittelpunkt der Studie steht die Relektüre kanonisierter Texte, in denen die besagte Marmorgruppe des Laokoon mitunter zur Sprache kommt.
Sei es dahingestellt, wie sehr sich dieser Text an den gängigen Verfahren der Hermeneutik orientiert und an einer historischen Semiotik, die sich als allgemeine Bedeutungstheorie versteht, so müssten diese methodischen Instrumentarien in dem Sinne Verwendung finden, dass die Prozesse der Bedeutungskonstitution nachvollziehbar blieben. "Überlegungen zur Struktur der Künste" (51), die nicht erst im Blick auf Lessings "medienästhetisch orientierte[m]" Kunstbegriff (55) hinreichend bekannt sind, versprechen nicht deshalb gesteigerten Erkenntnisgewinn, weil man sie in "kunsttheoretische Kriterien der Komparatistik [!]" (53) eingebunden sieht. Setzt diese Studie auf den breit ausgetretenen Pfaden der Semiologie einen Fuß schwer vor den anderen, hätte sie, um diese Orientierung an Althergebrachtem hinreichend zu rechtfertigen, die Rekonstruktion der für die Epoche des Klassizismus gültigen rezeptiven Kompetenzen unternehmen müssen. In welchem Umfang eine zur vollkommenen Regel erhobene Skulptur nur in Abhängigkeit von der Analyse des Inhalts beschrieben werden kann, wie weit die visuelle Erscheinung der Werkes relevant ist, lässt sich mit Schrader allzu leicht beantworten. Die ästhetische Erfahrung, die sich an der Ausdrucksdimension gewinnen ließe, erscheint ihr irrelevant. Dementsprechend folgt Schraders Studie bedenkenlos Lessing, dessen Anschauungsdefizit sie zum Stilideal erklärt, ohne sich im Kreuzungspunkt von spezifischer Werkerfahrung, Rezeptionsgeschichte und Kontextforschung zu positionieren. Aber nur so wäre eine historische Ästhetik, eine "Heuristik" als Methode der ars inveniendi überhaupt zu begründen.
Um die vielfältigen Verbindung nachzuzeichnen, die sich zwischen einer Poetik des idealschönen Körpers und einer Geschichte der Ästhetik entspannen, reicht es mitnichten, einige wenige der einschlägigen Sammelbände zur Semiologie in den Fußnoten aufzuführen. Über die reine Ankündigung im Vorwort hinaus, wäre es an Schrader gewesen, diese Zeichenregime nicht allein mit der zeitgenössischen Kunsttheorie, sondern mit "Ethik" und "Erkenntnistheorie" (17) zu konfrontieren - von der notwendigen Betrachtung der verschwisterten Genese von Ästhetik und Anthropologie ganz zu schweigen (104-105). In der Tat hätte eine solche Studie über die avancierten Auseinandersetzungen deutscher Autoren mit dem Paradigma klassizistischer Schönlebendigkeit einen aktuellen Beitrag nicht nur für die Germanistik, sondern für die Ästhetiktheorie geleistet.
Gerade im Hinblick auf die "vollkommene Regel" erwiese es sich als reizvolle Volte, dass aisthesis im etymologischen Sinn "Wahrnehmung durch die Sinne" bedeutet, wobei unentschieden ist, an welchen der Sinne sich der Gegenstand in seiner sinnlichen Präsenz wenden wird. Bedauerlicherweise thematisiert die Studie nicht, dass ausgerechnet Herder, den sie volltönend im Untertitel führt, diese Offenheit in der Relation von Adressat und Empfänger aufgreift, sobald er die seit der Renaissance dominierende ästhetische Privilegierung des Auges ironisch hinterfragt: Herder markiert, und das ist der Moment, in dem von einer "Heuristik" gesprochen werden könnte, mit seiner Studie über die Plastik ein neues diskursives Feld - erhebt er doch Einspruch gegen die Skoptophilie der modernen Ästhetik und forderte eine aisthesis auch und gerade taktiler Natur. Dass es dabei nicht um ein Sehen im optischen, sondern ein Durchspüren im physiologischen Sinne geht, ein leibgebundenes Empfinden, wird spätestens dann ersichtlich, wenn Schrader Herders brisanten Satz über "Polyklets Regel der Kunst" zitiert: Sei die "vollkommene Regel" "nur aus dem Gefühl und fürs Gefühl deutlich" (122), mahnt die Autorin die "Unbestimmtheit" der Begriffsverwendung an, erkennt jedoch nicht, wie in dieser Aussage eine fundamentale Abkehr vom Visualprimat vollzogen wird. Für die Rezeption antiker Skulpturen bedeutet dies, dass nicht die hermeneutische Kompetenz des Betrachters aufgerufen ist, die Statue durch mythologisches Wissen zu vervollständigen, noch durch einen semiotisch geschulten Blick das Artefakt in ein Arsenal klassifizierbarer Zeichen zu verwandeln, sondern ihre Verlebendigung zu erreichen - durch eine imaginäre Berührung, die aus einer "vollkommenen Regel" einen fühlbaren Kunstleib macht.
Beschwört Schraders Studie eine "Ganzheit", deren harmonisierender Unterton die Sprengkraft literarischer Auseinandersetzung mit dem Laokoon fortwährend zu nivellieren sucht, sitzt die Autorin den verfestigten Rezeptions-Klischees auf, die in der Literatur des Klassizismus und der Spätaufklärung vor allem die künstlerische Inszenierung einer "geistigen Ordnung" und die Feier einer "Metaphysik der Schönheit" erkennen will: Anhand der breiten Rezeption der antiken Skulptur, dem Modellfall kunstphilosophischer und semiologischer Theoriebildung des 18. Jahrhunderts, wäre es ihre vornehmste Aufgabe gewesen, nicht nur in der "Einleitung" (11-19) den Zusammenhang zwischen klassizistischem Schönheitsideal und der Darstellung des Pathos - wenn nicht des körperlichen Schmerzes - zu benennen, sondern dieses prekäre Wechselverhältnis im Schlaglicht der folgenden sieben Kapitel an Kontur gewinnen zu lassen (29, 89-90). Schließlich wissen wir seit Simon Richter, dass der Schmerz, den Winckelmann überwunden wissen wollte, nicht am Rand des ästhetischen Diskurses angesiedelt ist, sondern dessen Zentrum besetzt. [1] Nicht ein Schrei, der zum Seufzer herabgestimmt ist, markiert in der "Ästhetischen Theorie" Goethes, mit dem der historische Teil der Studie schließt, die Trennlinie zwischen den schönen und den nicht mehr schönen Künsten (160), sondern eine Wunde, die zum Zentrum einer idealschönen Skulptur erklärt wird. Diese ambivalente Argumentation entwirft den betroffenen Körper als "kaum verwunde[t]" und sieht zugleich aus dieser nichtigen Verletzung alles entstehen: Als gestalterisches Zentrum entbindet die Flankenwunde "das Extrem eines physischen und geistigen Leidens", das die klassizistische Ästhetik nicht nur zur Neuverhandlung freigibt, sondern die Grenzen des decorum nachhaltig überschreitet.
Was in Lessings Kunsttheorie nicht integrierbar war und in Goethes Überlegungen noch einer Strategie der Mäßigung unterworfen bleibt, damit "ein Letztes" nicht gezeigt wird, stellt sich, so darf man den Arbeiten von David Wellbery und Winfried Menninghaus entnehmen, als ein in anderen zeitgenössischen Disziplinen keineswegs ausgegrenztes Thema dar - Disziplinen, die Schrader fortlaufend benennt, aber niemals befragt. Entdeckt die "Anthropologie" des ausgehenden 18. Jahrhunderts den "ganzen Menschen"[2], gerät die Bedeutung leiblicher Phänomene in den Blick, die als Leib-Zeichen das Interesse einer semiologischen Untersuchung erwecken müssten. Eine sorgfältigere Interpretation des Textmaterials, die das "scheinbar Abseitige" als Ausdruck interner Verwerfungen und Konflikte zu lesen versuchte und dazu bereit wäre, "die Werke gegen den Strich ihrer autoritativen Schlüssigkeit"[3] zu bürsten, hätte die allzu enge Perspektive erweitert. So aber referiert Schrader in der Folge unverbundener Unterkapitel und gereihter Fundstücke die Ergebnisse einer überkommenen Auseinandersetzung, ohne zu erkennen, dass das Modell ästhetischer Erfahrung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidenden Veränderungen unterworfen ist.
Die Skulptur des Laokoon hat bewiesen, dass sie über Jahrhunderte hinweg ein ihr angemessenes Betrachterverhalten zu stimulieren und als betrachterkonstitutives Werk dem verstehenden Blick die Rezeptionshöhe vorzuschreiben vermag. Spätestens, so möchte man der Autorin zurufen, mit der Wende zum Subjektbegriff der Ästhetik kann der Rezipient als derjenige aufgefasst werden, der sich durch seine spezifische Kompetenz ausweisen und definieren muss. Denn das 18. Jahrhundert wusste sehr genau, dass die ästhetische Kritik keine Naturgabe, sondern das Ergebnis einer fortgesetzten Ausbildung perzeptiver und deskriptiver Fähigkeiten ist. Diese Formen versprachlichter Beurteilung bleiben jedoch einem notwendig kleinen Kreis vorbehalten.
Anmerkungen:
[1] Simon Richter: Laocoon's Body and the Aesthetic of Pain: Winckelmann, Lessing, Herder, Moritz, Goethe, Detroit 1992.
[2] Hans Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur um 1800, Stuttgart 1994.
[3] Helmut Pfotenhauer: Einleitung, in: ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991, 1-4, hier: 3.
Oliver Jehle