Horst Lademacher: Phönix aus der Asche? Politik und Kultur der niederländischen Republik im Europa des 17. Jahrhunderts (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas; Bd. 16), Münster: Waxmann 2006, 797 S., ISBN 978-3-8309-1683-3, EUR 59,00
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Das "Goldene Zeitalter" der Niederlande ist als Metapher wohl bekannt. Durch Bekennermut löste sich die Republik aus dem monolithischen Katholizismus der Spanier, durch Unternehmergeist und Entdeckerfreude der Kaufleute sammelten sich die Niederländer große Reichtümer aus allen Teilen der Erde, und als Geldgeber wurden sie die Förderer modernisierender Prozesse in ganz Europa. Dies alles ist vielfach erforscht worden, von niederländischen wie von nichtniederländischen Wissenschaftlern. Die Studie von Horst Lademacher hingegen wendet sich den geistigen, kulturellen und mentalen Grundlagen dieser niederländischen Blütezeit zu. Kaum jemand dürfte geeigneter sein für eine derartige Synthese als Lademacher, der seit mehr als einem halben Jahrhundert verschiedene akademische Aufgaben in den BeNeLux-Staaten und in Deutschland wahrnahm und ab 1989 als Gründungsdirektor das "Zentrum für Niederlande-Studien" an der Universität Münster errichtete.
Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen ist das Buch ein Grundlagenwerk geworden, das "Kulturgeschichte" in ihrer ganzen Breite und Tiefe veranschaulicht: 13 Hauptteile entstanden, und sie reichen weit über formalistisch-modische Konzepte hinaus, sondern nähern sich einer "histoire totale" an. Lademacher beginnt im ersten Hauptteil mit dem Rückblick auf die burgundische und habsburgische Tradition sowohl in geistiger (Humanismus) als auch sozialgeschichtlicher Hinsicht (Städteverfassung). Der zweite Hauptteil hat die "Bildformung" der Niederländer zum Inhalt: Wie sahen die Reisenden aus vielen europäischen Ländern Land und Leute an Waal, Maas und Schelde, wie erklärten sie sich ihre Erfolge und ihre Eigenart, was vermittelten sie ihren eigenen Landsleuten über diesen geschichtlichen Sonderfall im Nordwesten Europas?
Im dritten Hauptteil entfaltet Lademacher die politische Kultur der jungen Republik, wobei er die tatsächlichen Verfassungsverhältnisse in ihrer Fragilität verknüpft mit den staatstheoretischen, historiographischen und pragmatisch-politologischen Gedanken, die sowohl in den politischen Körperschaften als auch in den gelehrten Debatten der Wissenschaftler und Publizisten der Zeit stattfanden. Der vierte Hauptteil entfaltet einen gewichtigen Spezialaspekt der politischen Kultur, nämlich die juristische und völkerrechtliche Reflexion über die Souveränität sowie über die Zentralfrage vom Frieden, wobei Hugo Grotius diesen Problembereich personifiziert.
Komplementär dazu steht der Krieg als faktisches Problem im Mittelpunkt des fünften Hauptteils - die Republik führte im 17. Jahrhundert in mehr Jahren Kriege als sie Friedensjahre genießen konnte -, wobei Debatten über gerechten oder ungerechten Krieg überleiten zur Sehnsucht nach Frieden. Der sechste Teil befasst sich auch mit Gewalt, allerdings mit der strukturellen Gewalt der Niederländer in ihren bewaffneten Handelsbeziehungen zu den Kolonien in Übersee. Die Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC) und die Westindische Kompanie (WIC) beschafften nicht nur Gewürze und andere Wertgegenstände aus Südostasien und Mittelamerika (zeitweilig auch aus Brasilien) für die Republik, sondern sie vermittelten auch Herrschaftsmethoden, Waffentechnologie und christliche Missionstätigkeiten in die Kolonien, was weitreichende kulturelle Umwandlungsprozesse anregte.
Im siebten Teil vertieft Lademacher die konfessionelle Kultur in der Republik selbst: Neben der calvinistischen Hegemonialkirche ("publieke kerk") entfalteten sich kaum gestört viele andere Kultusgemeinschaften, und selbst das katholische Bevölkerungsdrittel konnte trotz zahlreicher sehr rigide klingender antikatholischer Gesetze auf seine Weise selig werden. Die Toleranz wurde folgerichtig im akademischen Diskurs vielfältig betont und kultiviert, doch in der jüngeren Forschung blieben auch die Grenzen der Toleranz nicht unerwähnt.
Der achte Hauptteil hat das Bildungswesen der Niederlande zum Gegenstand, das auf kirchlichen Grundlagen des Spätmittelalters aufbauen konnte, dann allerdings in der jungen Republik besonders durch die Universität Leiden in international führende Höhen aufgestockt wurde. Studenten aus vielen Teilen Europas lernten an den niederländischen Hochschulen, wobei konfessionelle Grenzen leichter als anderswo überschritten wurden. Umgekehrt versorgten diese Bildungsstätten auch andere europäische Schulen und Hochschulen mit hochqualifizierten Wissenschaftlern. Die Bildungsreise (peregrinatio academica) wurde vom Niederländer Thomas Erpenius erstmals in einer profunden Studie als Ideal einer bürgerlichen Wissenschaftlerkarriere ausgebreitet, sie ähnelte der grand tour des Adels an die Höfe Europas.
Im neunten Hauptteil entfaltet Lademacher die Literatur in niederländischer Sprache: Während in Deutschland noch das Lateinische dominierte, um durch die erste Fremdsprache des Barock, das Französische, abgelöst zu werden, dichteten die Niederländer in ihrer eigenen Sprache, wobei der Dramatiker Joost van den Vondel die Qualitätsmaßstäbe vorgab, der Jurist und Emblematiker Jacob Cats hingegen am erfolgreichsten den Lesemarkt versorgte. Deutsche Nationalsprachler wie Martin Opitz bezeugten, von niederländischen Literaten gelernt zu haben. Bekannter ist die niederländische Blüte in der bildenden Kunst, die im zehnten Hauptteil im Mittelpunkt steht: Gemälde aller Gattungen und hochentwickelte Druckgraphiken wurden nicht nur nach ganz Europa exportiert, sondern vor allem im Inland breiten Bevölkerungsschichten mit Erfolg verkauft, wodurch die Abbildung zu einer weit verbreiteten Alltagsware wurde.
Neben den klassischen akademischen Disziplinen - so schreibt Lademacher im elften Hauptteil - schuf die relative Freiheit des Denkens die günstigsten Grundlagen für den Aufschwung der Naturwissenschaften. Der zwölfte Hauptteil untersucht die spezielle Wirkungsweise des niederländischen Geistes- und Kulturlebens auf deutsche Territorien. Was seit Gerhard Oestreich für Brandenburg-Preußen bereits untersucht wurde, stellt Lademacher auf eine breitere Basis, indem er zahlreiche protestantische Territorien und Städte Norddeutschlands einbezieht.
Im letzten Hauptteil steht der Wandel zum 18. Jahrhundert zur Diskussion an, mit Lademachers Worten ein "Abschied von der Bewunderung" (693). Die Republik musste dem jahrzehntelangen Kampf gegen Frankreich, der Personalunion mit England von 1689 bis 1702, vor allem aber der wachsenden Wirtschafts- und Handelskonkurrenz des Inselreichs Tribut zollen und erfuhr einen langsamen Abstieg vom Rang einer Großmacht. Ungeachtet vereinzelter schadenfroher Kommentare von Gebildeten, die meist in rückständigeren Gemeinwesen wohnten, blieben die Sieben Provinzen auch in veränderten Staatsformen eine respektable und respektierte Mittelmacht, ein Status, mit dem es sich bis heute gut leben lässt.
Im "Nachklang" analysiert Lademacher die Bedeutung des "goldenen" 17. Jahrhunderts für die spätere niederländische Nation, die sich - auch angesichts ihrer abnehmenden machtpolitischen Bedeutung - vor allem auf Rechtsstaatlichkeit im Innern und im Völkerrecht sowie auf den Verzicht von Gewissenszwang gründet und diese Grundpfeiler dessen, was später Liberalität genannt wurde, bei jeder passenden Gelegenheit betont.
Horst Lademachers niederländische Kulturgeschichte ist ein bedeutender Beitrag zur Geistesgeschichte, zur kulturellen Praxis und zur mentalen Verfasstheit einer europäischen Nation, die im herrschenden Denken insbesondere der Deutschen immer noch und völlig zu unrecht unterrepräsentiert ist. Gerade vor dem Hintergrund dieser Darstellung des "goldenen" 17. Jahrhunderts wird bekräftigt, dass die deutschen Territorien sich den Niederländern gegenüber im Rückstand befanden, dass viele Deutsche als Gast- und Wanderarbeiter über den Sommer in die Niederlande zogen, um mit dem Ersparten im Spätherbst in die Heimat zurückzukehren.
Was sich seit dem 18. Jahrhundert an wirtschaftlichem und kulturellem Potential in den deutschen Territorien entwickelte, verdankt sich in mancher Hinsicht nicht nur englischen und französischen Anstößen, sondern eben auch niederländischen. Lademachers Buch ist ein Ansporn, die deutsch-niederländische Geschichte nicht auf die schrecklichen Jahre von 1940 bis 1945 zu reduzieren, sondern sie im Rahmen einer jahrhundertelangen, für beide Seiten fruchtbaren Nachbarschaft zu sehen, als die sie in der Praxis ja auch im Rahmen der gemeinsamen europäischen Institutionen seit den 1950er Jahren wieder gelebt wird. - Das Buch ist mit einer umfangreichen, nach Kapiteln sortierten Bibliographie sowie mit einem Personenregister versehen.
Johannes Arndt