Christoph Pan / Beate Sybille Pfeil (Hgg.): Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa (= Handbuch der europäischen Volksgruppen; Bd. 3), Wien: Springer 2006, XXII + 561 S., ISBN 978-3-211-33889-6, EUR 78,00
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Vom "Handbuch der europäischen Volksgruppen", das Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil für das Südtiroler Volksgruppen-Institut im Rahmen eines EU-Projekts seit dem Jahr 2000 herausgeben, lagen bislang zwei Bände vor. Der erste lieferte eine systematische Einführung in die Minderheitenfrage sowie empirische Daten zu ihrer Größenordnung, der zweite behob das Manko einer vergleichenden Übersicht der Minderheitenrechte in den einzelnen Staaten Europas. Der dritte, nun vorliegende Band, den der Innsbrucker Staatsrechtler Peter Pernthaler wissenschaftlich betreut hat, spürt den historischen Wurzeln des modernen Minderheitenschutzes nach. Sie liegen schon im völkerrechtlichen Verbot des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert und, älter noch, in religiösen Schutzrechten der frühen Neuzeit.
Die Gliederung des Bandes geht laut Pernthaler von der Einsicht aus, "dass der Minderheiten(Nationalitäten)schutz eine doppelte historische Wurzel in der Französischen Revolution" habe, die noch heute "in der Doppelstruktur von individuellen und kollektiven Schutzrechten wirksam" sei: Minderheitenschutz bedeute demnach einerseits "Menschenrechtsschutz" im Sinne der Erklärung der Menschenrechte von 1789 und andererseits die Verwirklichung der "Selbstbestimmung der Völker (Nationalitäten) und Volksgruppen im Sinne des neuen, demokratisch-nationalen Volksbegriffes der Revolution". Eine Versöhnung dieser beiden Ansätze mit dem System eines konsequent multinationalen Rechtsstaates versuchte zum ersten Mal die Habsburgermonarchie in ihren letzten, österreich-ungarischen Jahrzehnten. Diesem von Pernthaler selbst geschriebenen, instruktiven Kapitel folgen Beiträge über Nationalitätenpolitik im zaristischen Russland und das millet-System im Osmanischen Reich, über den Minderheitenschutz im Völkerbundsystem sowie die Nationalitätenpolitik der beiden totalitären Diktaturen Sowjetunion und 'Drittes Reich'. Anschließend wird die Entwicklung des Minderheitenschutzes in einigen relevanten Ländern (Schweiz, Belgien, Österreich, Italien, Spanien, Skandinavien und Großbritannien) näher untersucht, bevor es um die neuesten Entwicklungen im Rahmen des Europarates, der KSZE/OSZE sowie der Europäischen Union geht.
Wie in Sammelbänden üblich, tragen die einzelnen Teile des Werkes auch den individuellen Stempel der jeweiligen Autoren. Dies wird an den Beiträgen zum Völkerbundssystem und zur Volkstumspolitik im nationalsozialistischen Staat besonders deutlich. Peter Hilpold, der die Zeit zwischen den Weltkriegen beleuchtet, wirft die Frage nach dem Scheitern des Minderheitenschutzsystems im Völkerbund auf. Die Antworten darauf, so der Verfasser, würden wegen ihrer "gleichwertigen Schuldzuweisung an alle Beteiligten" oft nicht überzeugen. Der immer wieder zu hörende Hinweis auf die fehlende Loyalität der Minderheiten und ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft mit dem "Heimatstaat" bei gleichzeitiger Agitation der "Mutternationen" (insbesondere Deutschlands und Ungarns) erscheine zumindest aus heutiger Sicht inakzeptabel, "da Loyalität nicht Vorleistung für die Gewährung von Minderheitenschutz sein" könne, "insbesondere wenn dieser völkerrechtlich ohnehin geboten" sei. Ausgangspunkt der ganzen Entwicklungen seien die weitreichenden territorialen Veränderungen infolge der Pariser Friedensverträge gewesen, die "oft in diametralem Gegensatz zu dem von den Alliierten propagierten Selbstbestimmungsgrundsatz" gestanden hätten.
Angesichts des überwiegend festzustellenden Widerwillens der (neuen) "Nationalstaaten" bei Umsetzung und Einhaltung der Schutzverpflichtungen dürfe es, so Hilpold, nicht verwundern, dass viele Minderheiten schließlich ihre Mutternation anriefen. Obendrein werde deren Einsatz für "ethnisch verwandte Gruppierungen" im modernen Staatensystem "regelmäßig als politische Pflicht gesehen, insbesondere wenn es sich um Minderheiten handelt, die erst durch weniger weit in der Vergangenheit zurückliegende territoriale Veränderungen anderen Staaten zugeschlagen worden sind". Ohne das System des Minderheitenschutzes, so die pointierte These, hätte die Pariser Friedensordnung "möglicherweise nicht einmal die ohnehin kurze Zwischenkriegszeit überlebt". Der Verfasser unterscheidet zudem klar zwischen dem Bemühen des demokratischen Deutschland unter Reichsaußenminister Stresemann, die minderheitenschutzrechtlichen Instrumente "konstruktiv" zu nutzen, und der Politik des 'Dritten Reiches' nach 1933.
Deutlich andere Akzente in der Kontinuitätsfrage setzen Malte Jaguttis und Stefan Oeter in ihrem Beitrag über das 'Dritte Reich'. Für sie trennt die Volkstumspolitik der Weimarer Republik "kein so kategorialer Unterschied von der Volkstumspolitik des frühen Nationalsozialismus wie vielfach angenommen". Die 1920er Jahre hätten in "vielerlei Hinsicht" die Voraussetzungen und Funktionsbedingungen für die weitere Entwicklung der Volkstumspolitik unter der nationalsozialistischen Herrschaft geschaffen. Die Verfasser übernehmen damit die Position jener Wissenschaftler, die es für schwierig halten, "die Ursprünge und Grenzen der völkischen Ideologie in der nationalsozialistischen Ausprägung in ihrem Verhältnis zu dem traditionalistisch-volklichen Selbstverständnis in der praktischen Volkstumsarbeit operabel zu identifizieren". Wie problematisch diese Sichtweise ist und wie leicht es tatsächlich fällt, die diametralen Unterschiede zwischen der Grundanlage national-konservativer und nationalsozialistischer Nationalitätenpolitik "operabel zu identifizieren", zeigt indes der Blick auf die Praxis: Konservative Traditionalisten konnten zum Beispiel die faktische Zwangsaussiedlung deutschsprachiger Südtiroler "Optanten" - von der NS-Politik mit vermeintlich höheren ideologisch-imperialistischen Zwecken, sprich Rücksichtnahme auf Hitlers faschistischen Kompagnon Mussolini begründet - nie und nimmer mitmachen. Zwischen Hans Steinacher, dem deswegen 1937 abgesetzten, "traditionalistischen" Vorsitzenden des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland, und dem rassistisch orientierten SS-Obergruppenführer Werner Lorenz, dem verlängerten Arm Heinrich Himmlers in der neuen "Volksdeutschen Mittelstelle", lagen Welten. Darüber können gemeinsame Bezüge zu dem - im übrigen auch links von der politischen Mitte nach 1919 weit verbreiteten - "volklichen" Denken oder das gemeinsame (damals bis zu den deutschen Kommunisten reichende) Streben nach einer Revision des Versailler Vertrages keinesfalls hinwegtäuschen.
Trotz dieser diskussionsbedürftigen Partien unterliegt es insgesamt keinem Zweifel, dass mit dem dritten Band des Handbuchs der europäischen Volksgruppen ein fundiertes Nachschlagewerk entstanden ist. Nützlich sind auch die thematisch spezifizierten Literaturverzeichnisse zu den jeweiligen Einzelkapiteln. Damit ist der künftigen Forschung ein gutes Hilfsmittel zur ersten Orientierung und möglichen Vertiefung an die Hand gegeben.
Manfred Kittel